Donnerstag, 4. November 2010

Istanbul





Winter in der Gecekondu von Istanbul-Uemranye

Mittellose Bewohner reissen Fetzen von den Plakatwänden, um sie in ihren Holzkohleöfen zu verfeuern. In der Perspektive der Autobahnzuführung, zerstörter Konsumillusionen und vereister Trottoirs stossen vier pfeilschlanke Minarette in den winterlichen Himmel. Am Ende der Zuführung, an der Einfahrt zur Gecekondu steht die neue Quartier-Moschee. In ihrem Untergeschoss ist ein Versammlungslokal mit einer Suppenküche eingerichtet.


In der Aufnahme aus dem Inneren der Gecekondu, aus der Gegenrichtung, erscheint die glühende Silhouette der  Minarette im Gegenlicht der sinkenden Sonne. Verklärt wölbt sich die Kuppel der Moschee hinter einer  grauen Front bunt zusammengeflickter Wohnschuppen und dem wackligen Baugerüst eines mehrgeschossigen Mietblocks, welcher gerade renoviert und aufgestockt wird, damit er mehr Rendite abwirft.

In der Wohnmisere um sie herum mag die Moschee manchen Bewohnern der Gecekondu Zuflucht bieten und ihre Gewissheit stärken, dass eine höhere Instanz sie am Ende für die erduldeten  Erniedrigungen entschädigt. Es sind wohl besonders die Aermeren, die in der Stadt nie wirklich angekommen sind und geringe Chance haben je zu den Arrivierten zu gehören. Den Ankommenden dient die Moschee wohl als Orientierungshilfe im Labyrinth ausufernder Vorstadtsiedlungen, denn von den Anschlüssen zu den Stadtzentren und zur Ring-Autobahn sind ihre Minarette weithin sichtbar. Im verzweigten Inneren der Gecekondu angelangt, muss sich ein fremder Besucher bei werweissenden Bewohnern zum Ziel durchfragen. Er ist aus der Hektik des Grossstadtverkehrs in eine dörflich-anatolische Wirklichkeit versetzt, steckt ratlos in einer unüberschaubar grossen Ansammlung von Bungalows und schäbigen Mietshäusern, in welcher eine andere Zeit gemessen wird als im Zentrum, der City, von wo er herkommt.

Ein schmutziger gefrorener Tümpel liegt zwischen ein paar einstöckigen Katen. Am Strassenrand brennt ein Kohlefeuer unter einem Rost. Es riecht nach brutzelndem Hammelfett und Kohlesmog aus Blechkaminen. Um die Ecke, an Staudengärtchen, schwarzen Schneehaufen und dem Depot eines Kohlehändlers vorbei, steht ein mehrfach aufgestocktes Miethaus. Am Eingang zu dessen Hinterhof, in welchem sich Baugerümpel stapelt, hat der Besitzer ein blau gestrichenes  Metalltor angebracht, um das Areal gegen diebische Nachbarn und Neusiedler abzusperren. Auf diesem massiven Tor zeigen Bewohner des Hauses, einem verbreiteten Brauch folgend, mit grossen schwarzen Buchstaben den derzeitigen militärischen Aufenthalt eines jungen Mannes an: „O  SIMDI  ASKER  81/2  HATAY“ – „Er dient jetzt als Soldat der Einheit 81/2 in Hatay“.

Hatay, Antakya! Der Rekrutierte ist weit fort von hier. Die Nachbarn sollen wissen: Ein Sohn der Familie erfüllt seine Ehrenpflicht in der Armee. Der junge Mann hat mit Freunden zusammen auf dem Dach des baufälligen Blocks Brieftauben gezüchtet. Nach einem Jahr, in welchem er Beulen von Schlägen und Frost einstecken lernt, wird er als vollwertiger Erwachsener in die elterliche Wohnung und zu seinem Taubenschlag zurückkehren.

Der Heimkehrer wird nach abgeleisteter Pflicht wohl vorerst weiterhin bei den Eltern unterkommen und seinen Verdienst bei Gelegenheitsarbeiten mit der Familie teilen. Uemranye ist sein Zuhause, aber seine Heimat ist nicht die Gecekondu. Die Eltern sind aus einem fernen Dorf nach Istanbul gezogen, weil sie sich für ihre Kinder in der Grossstadt bessere Chancen versprachen als in der wirtschaftlich vernachlässigten Provinz. Die Grosseltern und ein Teil der Verwandtschaft leben noch in jenem Dorf am anderen Ende der Türkei.

Hatay heisst die unbekannte Stadt, in welcher der Sohn jetzt dient. Sie liegt hinter der östlichen Riviera des Mittelmeers. Ihr Name auf dem blauen Tor ist mit Spraystössen schwarz umwölkt. Die Tauben werden kaum Nachrichten nach Hatay oder von dort zurück zu den Eltern, Geschwistern und Freunden tragen. Weshalb nicht doch? Lassen wir uns eine Gecekondu-Arabeske einfallen, in welcher sich dieser Wunsch erfüllt:

                                                   
                                                   Es fliegt eine Taube.
                                                   Von Südost über den Taurus
                                                   fliegt sie und geblendet
                                                   über den Salzsee.
                                                   Ueber den Sakarya-Sümpfen
                                                   trödelt sie den Mäandern entlang.
                                                   Sie kreist zwischen Hügeln
                                                   über einem Kindergrab.
                                                   In der Kammer verschlossen
                                                   ist königliches Spielzeug:
                                                   Greif, Löwe und Pferd.                                              
                                                   Vor der Sonne fliegt sie dann
                                                   flugs nach Nordwest -
                                                   und flattert flink eines Abends
                                                   auf einem Hausdach
                                                   unter die löchrigen Säcke.
                                                   In der Kapsel trägt sie
                                                   aus ihrem Urlaub Botschaft.
                                                   Bringt heim nach Uemranye
                                                   Nachricht vom Soldaten,
                                                   Botschaft vom Sohn:
                                                   dass er fern, dort
                                                   wo sich mit Feuerstössen
                                                   die Heimat eintreibt,
                                                   an den Taubenschlag
                                                   und an die Freunde denkt.
                                                   Dass er sich kümmert um sie
                                                   und um das Futter.



Die Gecekondu von Uemranye/Istanbul im Blickwinkel des „Carrefour“-Einkaufszentrums

Die Filiale des französischen Shoppingriesen hat sich an der Hauptverkehrsachse östlich der Bogazici-Highgate an entwicklungs- und verkehrsstrategisch hervorragender Stelle positioniert, präzise: am Kreuz der nordöstlichen Ringautobahn und der Sile-Autobahn. In dieser Verkehrszone liegt sie hart am Rand der Gecekondu des Stadtbezirks Uemraniye.

Durch die Fensterfront hinter den Kassenbatterien, über der endlosen Reihe ineinander geschobener Einkaufswagen, erscheint der winterliche Horizont der Gecekondu auf der asiatischen Seite des Bosporus. Durch die Doppelverglasung wirkt die Dorfstadt mit dem Minarett ihrer Moschee wie eine Fata Morgana der Vergangenheit. Randständiger Wildwuchs wuchert dort in eine ungewisse Zukunft hinaus. Auf dem teuren Baugelände hinter dem Parkplatz rücken die Betongerüste von Wohnblöcken an den Fuss des Hügels heran, auf welchem sich die zählebige Gecekondu, unbekümmert um Baugesetze, ihr kündbares Daseinsrecht ersessen hat.

Die Stadtplanung wird ihre Verzweigungen nicht einholen, denn sie klettet sich bald an ihre Umgehungsstrasse, an der kleine Geschäfte Standortvorteile nutzen, und stösst ihr entlang auf neue, noch unerschlossene Territorien vor. Aber die Verkehrsachse setzt dem ungeplant-organischen Wachstum einen Sperriegel. Im Umkreis des Autobahnkreuzes entstand eine Konfliktzone. Hier wird die Gecekondu auf den Pannenstreifen gedrängt. Selbst die Moschee, welche die Legitimität ihrer Zulassung zu erhöhen schien, schützt ihre Randquartiere wohl nicht mehr lange vor dem Vormarsch der Raupenbagger. 





 Do-it und Pepsi

Bis zur Decke überquellen die Gestelle mit Zweiliter-Petflaschen. Coca- und Pepsi-Cola türkischer Lizenzproduktion sind die Marktleader. In erdrückender Perspektive türmen sich über den für den Kunden erreichbaren sechs Gestellen nochmals  fünf glänzende Reihen Coca-Cola-Flaschen, elf insgesamt. Werbefassade. Der Angestellte an der Palette trägt zum Ueberfluss ein rotes Coke-T-Shirt.




Im „Günün Pazari“ überquellen die Mandarinen in ihren zu Amphitheatern hochgestapelten Kisten und ihre Tagesfrische erstrahlt unter der von Solariumlampen erzeugten Sonnenkraft. In glänzenden Taschen türmt sich unter kinoleinwandgrossen Discountpreis-Schildern das Waschmittel, welches die Sonnenkraft für die Wäsche verspricht. Und in der Haushaltabteilung versprechen Batterien von Bosch-Waschmaschinen den Hausfrauen die Freiheit von der Waschfron.




In der Filiale des deutschen Unternehmens „Praktiker“ im gigantischen Shoppingkomplex von Uemranye animiert eine modisch ausgerüstete Puppe mit Schutzhelm, Oel-Pellerine, Schutz-Brille und Staubmaske den Selfmade-Bauarbeiter-Schweisser-Schleifer-Lackierer zum Zugreifen. Alles nichts Neues. Doch: Hat eine türkische Gewerkschaft  nicht bloss die Legitimität, sondern auch die nötige Macht, in Europa geltende Schutznormen für die Arbeitskräfte in Betrieben - zum Beispiel des Bau- oder Transportgewerbes - durchzusetzen? Und: Sind Migranten überhaupt gewerkschaftlich organisiert? Wieviele von ihnen erfüllen die dazu notwendige arbeitsrechtliche Voraussetzung?

Der Bauherr eines Selfmade-Hauses in der Gecekondu wird sich den Praktiker-Luxus jedenfalls schon darum nicht leisten wollen, weil sein lichtscheues Unternehmen niemandes Neugier wecken darf. Ein Detail fällt auf, weit mehr als bloss Etikette, unscheinbare Marke des enormen gesellschaftlichen Wandels: Ueber dem Eintritt der Konsum-Paradiese fehlt das Schild „Mashalla“, welches der kleine Kohlehändler der Gecekondu über  den Eingang seiner baufälligen Bude an der Ecke einer hinterwärtig gelegenen Gasse genagelt hat.