Samstag, 28. August 2010

Momente: Uebergänge, Kontraste, Disparitäten


Die mediterrane Baufront - vorrückende Ränder der Ferienagglomeration Kusadasi



Neulandzone am Rand der Macchia




Die muskatfarbene Erde ist frisch planiert. Wie aus einer silbernen Verpackung geschält, steht die blanke Moschee auf dem zubereiteten Terrain. Zierlich mit ihren blauen Minarett-Spitzen, fast wie ein Modell ihrer selbst, wartet sie dort auf die geplante Siedlung. Vorn am Hang, auf der Kuppe über den Attika-Terrassen, steht auch schon zur Probe der erste Block, ein eisblauer Würfel. Sündhaft teuer (wenn auch nicht für harte Fremdwährung) ist die Sicht auf die Aegäis, gewinnträchtig der Neulandperimeter entlang der Küstenstrasse. Erschliessungsplanung und Bauspekulation sind an der Aegäis undurchdringlich miteinander verflochten.





Eine Wohnsilo-Symphonie

„Bonjour Petrol“. Die Füllstutzen der Tankstelle und die bunten Plüschzotteln der Waschanlage sind schon länger im Geschäft. Dahinter, über Bauschutt und dem aufgerissenen Hang, am Rand der aegäischen Macchia, entsteht ein Siedlungssatellit. Ein grosser Wurf. Sechzehnstöckige Wohntürme werden auf dem Küstenkamm im Gleichtakt hochgezogen. Eine Wohnsilo-Symphonie. Die Betonskelette recken sich schon fertig in den leichtbewölkten Frühlingshimmel. Nun werden im zweiten Akt die Backsteinwände in die Rahmen der Geschosse eingefügt. Zwei Türme stehen im Rohbau abgeschlossen, die andern werden paarweise zügig zum finalen Akkord geführt.




Die Kaufverträge für die obersten Wohnungen sind sicher schon unter Dach. Solche streng orchestrierten Kraftakte leisten nur im Rahmen finanzkräftiger Konzerne organisierte Generalunternehmen. Solange der Tourismus boomt, schlummern in der Macchia der türkischen Riviera noch schnelle Milliardengewinne. Investitionskapital für eine nachhaltige Entwicklung oder für überrissene Prestige-Projekte?

Man kennt die Paradoxie, dass die Einkünfte der Türkei aus dem Tourismus die jährlichen Milliardenkosten zur Perpetuierung des Kriegs gegen die PKK in der Osttürkei finanzierten. Gigantische Stauseeprojekte erforderten die Umsiedlung Zehntausender aus den betroffenen Regionen. Krieg und Dorfzerstörungen lösten eine verstärkte Migrationswelle aus. Ob die zaghaften Schritte der Verfassungsreform und die einsetzende Integrationspolitik gegenüber den kulturellen Minderheiten auf Dauer Erfolg versprechen, ist bis heute angesichts der nationalen und mittelöstlichen Imponderabilien nicht absehbar. 



Spielende Kinder und behauste Ruinen - die armselige Gecekondu am Burghügel der Provinzstadt Pasinler





Die Kleinstadt an der Transitstrecke nach Kars und Agri sowie am Ausgang der Passstrasse nach Musch, kaum 30 Kilometer von Erzurum entfernt, hat verarmten und vertriebenen Familien aus den Gebirgsdörfern kein Dach über dem Kopf geschenkt, sondern Erde auf morschem Gebälk verlassener Hofruinen droben am Burgberg. Alte Vulkanasche! Sie lastet schwer über ihrem Haupt. Provisorisch wurde zugebaut und wo nötig abgestützt. Vorübergehend ist solche  Bleibe immer. Der steinige Weg steigt steil an und wird bei Regen zum Bachbett. Das Wasser reisst das körnige Erdreich auf, schwemmt den Schutt hangab. Bruchsteinmauern erfüllen den Zweck provisorischer Stützdämme. Zwar ist die vulkanische Erde der weiten Talebene fruchtbar und die neuen Wohnquartiere dort unten machen den alten Markt- und Verwaltungsflecken unter der imposanten Festung zur Satellitenstadt von Erzurum. Doch der Blick nach oben weckt nicht die Hoffnung, dass das Elend ein Ende habe, es sei denn, der nackte Fels verhindere, dass es sich bergaufwärts weiter ausdehnt.



Am Rand der Gecekondu haben sich Bewohner in unvorstellbarem Wohnelend „eingerichtet“. Unter der restaurierten Mauer der imposanten Festung Hasankale scharen sich die provisorischen Behausungen der durch Krieg und wirtschaftliche Not landvertriebenen Migranten aus den Gebirgsdörfern. Mädchen spielen am gepflästerten Aufgang zur Burg vor der roh gefügten Bruchsteinmauer einer Hausruine, deren Wellblechdach wohl von neu Zugezogenen teilweise abgerissen und als billiges Baumaterial wiederverwertet wurde. Ein Mann geht auf dem vom Regen teilweise weggespülten Weg zu seinem Wohnquartier, welches im Schutz alter Stützmauern unter der Burg errichtet wurde.

Das Dach eines durch Hangrutsche eingerissenen Hofs wurde mit Plastikplanen abgedichtet und der schüttere Zugang durch Hölzer abgestützt. Zum Trocknen aufgehängte Wäschestücke und ein Kessel verraten, dass die Ruine bewohnt ist. Ob die Antenne am dünnen Mast noch ein TV-Programm empfängt, ist allerdings fraglich. Vom Hügel öffnet sich der Fernblick über das Tal auf Reihen neu errichteter Wohnblöcke an der Transitstrasse. Sie verraten, dass Pasinler im Einzugsgebiet der Grossstadt Erzurum eine wirtschaftliche Zukunft zugedacht ist. Die verarmten Zuwanderer werden, wenn sich die Hoffnungen erfüllen, wohl erst in der nächsten Generation davon profitieren. Heute teilen sie wie die meisten Vertriebenen das Schicksal der Diskrimination. Auch am Fuss des Burghügels scharen sich unter den Minaretten der Moschee und dem Sitz der Beledye die zerfallenden Behausungen der Gecekondu. 







Ueberdimensionierte Plakatwand vor dem Stammsitz der türkischen Design-Möbel-Kette „Cilek“




Die 1995 gegründet, ist die nach dem Durchschnittsalter ihrer Mitarbeiter junge und entsprechend dynamische Firma auf dem Inlandmarkt in 50 konzessionierten Warenhäusern und im Sprung der Globalisierung bereits im EU-Raum, in Russland, im Mittleren Osten, in Nordafrika und Uebersee vertreten.

Die Gesellschaft, welche ihre Produkte in Inegöl mit einem hochautomatisierten Maschinenpark aus Deutschland herstellt, wirbt im Kontrakt mit der italienischen Accessoir-Firma „Tucano“ und ihrem buntgefiederten Urwaldvogel für die Leichtigkeit des Seins. Firmensignet ist die stilisierte Erdbeere. Blickfang der Image-Werbung ist die unbeschwerte, stets aufgestellte und für alle Modetrends aufgeschlossene Familie mit den Wildfängen in bunten T-Shirts. Diese tollen auf Cilek-Matratzen wie auf Trampolins herum. Oder sie bilden - wie auf dem Plakat - zusammen mit jungenhaften Erwachsenen eine kleine Menschenkette, welche gerade über eine grüne Wiese gehüpft ist und jetzt in der blauen Luft zu schweben scheint. Dass das Cilek-Ensemble ein wenig der Benetton-Familie abgeguckt ist, liegt auf der Hand.

Die Marke ist zukunftsbewusst auf einen wachsenden Markt der EU ausgerichtet; doch auch in islamischen Schwellenländern  wie Irak, Iran und Algerien ist die Firma schon präsent. Die Cilek-Luftballone, das frühlingshafte Grün und der Himmel stimmen harmonisch zur Atmosphäre der Uludag-Landschaft um Bursa, wo sich eine moderne - vorrangig im Textilbereich produktive - Industrie etabliert hat. In Europa ausgebildete Fachleute, etwa Maschinen-Ingenieure, sind die Pioniere der Innovation. Komfortable Badehotels dienen im urbanen Bursa oder in Izmir der Pflege weltweiter Beziehungen. 

Die Loorbeerkränze der Emblemtafeln nationaler Institutionen sind verstaubt,  der schwere Dekor und die Umzüge der Nationalfeiertage sowie die Ideale einer autoritären Erziehung wirken gegenüber der flotten Parade der Cilek-Familie auf den ersten Blick anachronistisch. Doch die Türkei ist das Land der Kontraste. Der hünenhafte Arbeiter, welcher eben in seinem ungebügelten grauen Overall schwerfällig ins Bild tritt, geht aus einer sozialen Wirklichkeit auf das Plakat zu, welche mit den Glamour-Seifenblasen der Werbung wohl kaum etwas verbindet. Falls er gerade vom Mittagsgebet kommt, dann hat er sich im Hinblick auf eine andere Paradiesverklärung gereinigt und niedergeworfen.

Der Gegensätze von Schwere und Leichtigkeit des Seins, von Bewahrung und Aufbruch, von Klassizität und  Modernität, von Armut und schnellem Reichtum, von orientalischer Gelassenheit und  liberaler Fortschrittsgläubigkeit ergeben das Bild eines Landes zwischen dem islamisch-arabischen und dem europäischen Kulturkontinent. 



Feier des Unabhängigkeitstags in Inegöl, Provinz Bursa





Der „Tag der nationalen Souveränität und der Kinder“, der 23. April, erinnert an die Einberufung der Nationalversammlung in der neuen Hauptstadt Ankara um 1923. Kindergruppen führen auf dem zentralen Platz vor dem Unabhängigkeitsdenkmal in historischen Kostümen Tanzaufführungen vor. Unter dem Denkmal sind auf Ständern die Tafeln mit den Emblemen nationaler Institutionen gereiht. Sie werden im Arsenal der Kommune auch für andere nationale Feiertage gelagert: zum Beispiel für den Atatürk-Gedenktag, der zugleich der „Tag der Jugend und des Sports“ ist oder für den „Tag des Sieges“ und den „Tag der Republik“.

Die Schülerinnen der Grundschule gruppieren sich diszipliniert in Phantasiekostümen osmanischer Vergangenheit zusammen mit ihrem Lehrer zur Fotografie. Die Republik definierte sich bei ihrer Gründung ausdrücklich als Bewahrerin des Osmanischen Reiches. Gemäss der republikanischen Ideologie hat das Sultanat die Nation verraten, indem es, allein in der Absicht die Dynastie zu retten, das verbleibende Kerngebiet des Grossreichs der Teilung unter die Siegermächte opferte. Das Kostümfest betont die Kontinuität der osmanisch-türkischen Nation. Die Tradition wird als einigende Kraft belebt. 



Migranten-Kinder

Drei Kleinkinder am Fenster ihrer Parterre-Wohnung in Istanbul/Fatih 

Die drei Kleinkinder, welche durchs Fenstergitter an der Gasse miteinander plaudern, sind Angehörige verschiedener Ethnien. Sie wachsen im ärmlich konservativen Milieu eines Quartiers in Istanbul Fatih auf, wo besonders viele türkische Migranten leben. 




Kinder vor Mauerflickwerk in der Gecekondu von Ankara/Altindag 

Das Mädchen hüpft vor dem bunten Mosaik alter Bruch- und angefügter Ziegelsteine vorüber. Unter den abgeblätterten Stellen des erhaltenen Verputzstücks liegen ältere Farbschichten bloss. Die Kritzeleien sind lesbar: „Cöp“ bedeutet Müll, das Herz verrät wohl ein kindliches Geheimnis. Der Junge mit dem Comic-Aufkleber auf der violetten Jacke hat Spass, als sich die Kamera ihn und das märchenhafte Farbenspiel verwaschener  Mauersgraffitti einfängt, unter denen er gerade vorbeispaziert. 





Das Milieu von Altindag beginnt nur ein paar Steinwürfe von der Reiterstatue Atatürks, den Bankpalästen sowie dem ehrwürdigen Bau der Nationalversammlung im Zentrum von Ulus entfernt, wo 1923 die verfassungsgebende Versammlung der Republik tagte. Auf der markanten Hügelkuppe des Bezirks stehen die Masten einer Radio- und Fernsehstation. Von dort oder von der Zinne des Burgbergs gegenüber öffnet sich ein beeindruckender und auch beklemmender Blick über die Ausdehnung der Gecekondus von Altindag und Yenidogan und weit darüber hinaus nach Norden und Osten. Es ist der Blick auf die andere, die anatolische Türkei. Ein schier grenzenloser, ein faszinierender und zugleich - angesichts der landesweit zu lösenden Aufgaben - bedrückender Horizont. 60% der Bevölkerung der Dreieinhalb-Millionenstadt Ankara leben in Gecekonduvierteln.