Donnerstag, 9. Juni 2011

Der "Aufstand" von Van und der Genozid an den Armeniern




Inhaltsverzeichnis


Vorwort                                                                                                                                        

Einführung:  Ahtamar – eine selige Insel?                                                                         
Fragen und unverfängliche Antworten                                                                                  

Geschichte                                                                                                                                            


Rückblick auf das 16.Jahrhundert: Armenien in der Epoche der Auseinandersetzungen  zwischen Osmanen und Safawiden. - Die Armenier vor dem Ende des Osmanischen Reichs zwischen Reformhoffnung und Nationaler Revolution.                                                                                                


Der Völkermord                                                                                                                         

Selbstverteidigung oder Verrat? Die Erhebung von Van und ihre Vorgeschichte   

Die Abfolge und Bedeutung der Ereignisse in Van zwischen 1914 und 1917. - Der armenische Nationalismus und die Bildung revolutionärer Organisationen. - Die Frage des innerarme-nischen Terrors in der Provinz Van an drei Beispielen und kritische Fragen zu ihrer Auslegung in türkischen Publikationen. - Ahtamar als „Zentrale“ einer armenischen Verschwörung und das Konzept türkischer  Rechtfertigung.                                                                                                              

Fragen zu Spuren und zerstörten Zeugnissen armenischer Kultur                           

Berg-Karabach und Ahtamar: Friedensbedingungen und eine „grosszügige“
Geste Ankaras                                                                                                                           

Das Minderheitenproblem der Türkei und die Logik der Leugnungs-Strategie        
               
Perspektiven: Erzieherstaat Türkei, Minoritätenproblem und Beziehung
zu Europa                                                                                                                                    

Eine stille Manifestation gegen die Geschichts-Fiktion des Erzieher-Staates
an der EXPO 2000                                                                                                                          

Ein brisanter Fall zur Minoritätenfrage und die Perspektive des EU- Beitritts                                                                                                               

Anhang

Bilddokumentation (Auswahl, Fotos mit Kommentar)

Literaturauswahl und Hinweise






Vorwort

2005 wurde die durch die türkische Republik finanzierte Restauration der armenischen Kirche auf der Vansee-Insel Ahtamar abgeschlossen. Neben den in der Einführung erwähnten Erfahrungen war die folgende Frage als Anlass für die Entstehung dieser Arbeit ausschlaggebend: Wie kann ein Staat sich entschliessen, ein historisch so symbolträchtiges Bauwerk zu restaurieren, ohne den Umständen, unter denen es wie viele andere zur gleichen Zeit zerstört wurde, nachdrücklich Rechnung zu tragen? Die türkische Republik ist bis heute nicht bereit, sich den eindringlichen Fragen, welche die internationale wissenschaftliche Debatte zu Verlauf, Dimension und Hintergründen der historischen Ereignisse von 1915/16 aufwirft, offen zu stellen und ihre Konsequenz zu anerkennen.

Die vorliegende Arbeit hält sich, von der historischen Darstellung im Mittelteil abgesehen, an die gewählte essayistische Form. Sie verzichtet bewusst weitgehend auf Zitate, Stellenhinweise und Anmerkungen. Zwei der wichtigen Sammlungen von Aufsätzen, an denen sie sich im historischen Rückblick orientiert, seien an dieser Stelle  allerdings dankbar besonders erwähnt: 

- Hovannisian, Richard G. (Hsg.): Armenian Van/Vaspurakan. Costa Mesa, California 2000

- Kieser, Hans Lukas / Schaller Dominik (Hsg. und gemeinsame Einleitung): Der Völkermord  an den Armeniern und die Shoah. Zürich (2)2003

Die einzelnen Autoren und Titel dieser Ausgaben sowie weitere Publikationen sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. 

Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle die im vergangenen Jahr erschienene ausgezeichnete Arbeit der Kommunikationswissenschaftlerin Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei. Berlin 2010. 
 



Einführung:  Ahtamar - eine selige Insel?

Die Gebirgsketten über der Südküste des Vansees sind Anfang Mai noch tief verschneit. Die Aprilstürme sind vorüber; mächtig spiegelt sich der weisse Gipfel des Cadir-Dagi im beruhigten dunkelblauen Wasser. Aber auf der Insel Ahtamar, in der Bucht von Gevas, blühen Aprikosenbäume. Das Mikroklima des grossen Sees begünstigt seit jeher auf 1700 Metern über Meer einen fruchtbaren Küstensaum. Auf den Hangterrassen über der Bucht wächst Getreide. Noch vor einem Jahrhundert wurde in der Region und selbst auf der kleinen Insel Wein angebaut. Im Hochsommer verflüchtigt sich das Grün an den Hängen. Nur in den bewässerten Oasen entlang der Flussläufe wächst fette Weide, gedeiht Gemüse und Obst. Die weite Landschaft erscheint dagegen gelbbraun und die Bergflanken mit ihren Erosionsnarben sind im sanften Licht lila getönt. Auf der Insel blühen dann im dörrenden Gras die hellblauen Kugeldolden der langstieligen  Distel. Die Blätter der Baumgruppen am Abhang der Inselbucht sind saftig grün. Auch auf dem Sattel, über den zerstreuten Grabsteinen hinter der armenischen Kirche, spenden die kräftigen Bäume Schatten.

Den ausländischen Touristen, welche von Ende April den Sommer über bis Oktober in kleineren Gruppen mit Motorkähnen auf die Insel übersetzen, bietet sich eine erfrischenden Fahrt und ein reizvolles Spiel, wenn die Bergflanken im Spiegel der Bugwellen zerfliessen. Auf dem Kajütendach flattert die türkische Flagge. Halbmond und Stern sind an der Küste auch einem in den See vorspringenden Berg aufgeprägt. Unter dem nationalen Emblem entziffern die Fährgäste den Leitspruch „OENCE VATAN“ -  „Das Vaterland über alles“. Wahrscheinlich haben sie das Atatürk-Zitat an einem Felsen über der Stadt Van nicht übersehen. Der Anblick befremdet sie kaum mehr, denn überall ist das Motto in die anatolische Landschaft ein-tätowiert, über Städten, Dörfern, Garnisonen: „NE MUTLU TUERKCE DIYENE“ - „Glücklich schätze sich, wer ein Türke ist“.

Der Ausflug auf die Insel Ahtamar, vierzig Fahrminuten von Van, gehört zum Standard-Programm der Car-Reisegruppen, welche zumeist eine Parforce-Tour in grossen Tagessprüngen vom Schwarzen Meer über Van, Diyarbakir, Urfa zum Mittelmeer absolvieren. Ziel des Ausflugs von Van ist ein mehr als tausend Jahre altes christliches Kulturdenkmal. Wodurch die Ahtamar-Kilise ihre Berühmtheit verdient, werden die Besucher mit staunenden Augen bestätigt finden. Sie werden kaum zur Kenntnis nehmen, dass im Zirkel der Bucht und auf einer winzigen Nachbarinsel die Ruinen anderer, selten besuchter armenischer Baudenkmäler stehen: etwa das Narek-Kloster, die Kamrakyank- oder die Deveboynu-Kirche. Die Heilig-kreuz-Kirche von Ahtamar (armenisch: Aghtamar) ist allerdings ein Kronjuwel, nicht nur im übertragenen, sondern auch im eigentlichen Sinn des Worts: Sie ist als Juwel der Krone Christi gedacht - ihre Stiftung legitimiert die Herrschaft eines Königs.

Zu Beginn des 10.Jahrhunderts wählte der armenische König Gagik I. das kleine Eiland, um abseits vom belebten Handwerks- und Handelszentrum Van einen sagenhaften Palast und eine neue Residenz des Reichs von Vaspurakan zu gründen. Er hatte die Macht formell als Vasall des Kalifen von Bagdad angetreten und seine Monarchie in Konkurrenz zum armenischen Reich der Baghratiden errichtet, welche von Ani aus den Nordosten Anatoliens und den Trans-Kaukasus beherrschten. Das kleine Reich von Waspu-rakan bildete zwar einen christlichen Vorposten von Byzanz gegen den Islam. Doch während die Macht der arabischen Abbasiden zerfiel, erlag es den byzantinischen Intrigen noch bevor die türk-stämmigen Seldschuken, aus Asien andrängend, 1071 die byzantinische Streitkraft bei Malazgirt am Nord-ufer des Vansees schlugen und darauf tief ins Innere Anatoliens vordrangen. Während der langen Epoche osmanischer Herrschaft betreuten Mönche das armenische Kloster. Die Insel blieb ein Ort des Gebets, aber auch ein Zentrum armenischer Politik, denn sie beherbergte den Sitz des Katholikos von Vaspurakan und eine Priesterschule. Das Amt des Katholikos verwaiste nach den Armenierpogromen von 1895/96 und wurde noch während der letzten 20 Jahre durch den Patriarchen von Konstantinopel verwaltet.

Die Hofkirche der Königs-Residenz ist heute das einzige erhaltene Bauwerk der Insel. Sie überdauerte mehr als tausend Jahre bewegter Geschichte in der Grenzregion zwischen dem Kaukasus und Mesopotamien, zwischen Persien und dem Osmanischen Reich. Fotos dokumentieren noch um die Wende zum 20. Jahrhundert die bescheidenen Anlagen des Klosters und kirchlichen Amts. Nach den tragischen Ereignissen von 1915/16 hob die osmanische Regierung das Katholikat von Vaspurakan offiziell auf. Das Kloster von Ahtamar wurde wahrscheinlich gesprengt. Andere Klöster, wie Narekawan oder das bedeutende Varagawank östlich von Van, wurden zur selben Zeit zerstört. 

Seit dem Ersten Weltkrieg war die ehemalige Palastkirche dem Zerfall preisgegeben. Der schlanke, feingliedrige Zentralbau, aus dem roten Baustein einer von König Gagik eroberten arabischen Festung errichtet, ist trotzdem heute noch beeindruckend. Ein einzigartiger Reliefmantel umgibt die gesamte Architektur. Sein zentraler Figurenfries stellt die Glaubenswunder des Alten Testaments dar. Eine der anmutigsten Szenen auf der Südseite ist die Errettung des Jonas. Der Walfisch, in der Gestalt eines Monstrums mit dem Kopf eines Löwen eher als dem eines Fischs, ist wohl das Urbild des legendären Vansee-Ungeheuers. Er spuckt den Jonas auf Gottes Geheiss an die Küste, wo er unter Ranken von Reben und Kürbissen aus seinem wunderlichen Alptraum erwacht. Eine weitere Szene des zierlichen Reliefbands ist etwa die durch den Engel verhinderte Opferung Isaaks: Abraham hat seinen Sohn schon am Schopf ergriffen, da weist ihn Gottes Hand auf den Widder im Geäst eines Baums. Monumentaler ist die Darstellung des Kampfs zwischen David und dem ritterlich gerüsteten Goliath. Auf der Nordseite stehen Adam und Eva einander zugewendet unter einem grazilen Feigenbäumchen. Den beiden nackten Figuren sind wohl nach der Vertreibung der Mönche die Gesichter zerkratzt worden. In der zentralen Stiftungsszene der westlichen Eingangsfront trägt König Gagik in Frontaldarstellung ein halbplastisches Modell der Kirche. Er steht in reichem Ornat auf gleicher Höhe mit dem Erlöser zwischen zwei Cherubim, deren vier Flügel als Ewigkeitssymbole von Augen übersät sind. Man muss sich alle Figuren des Reliefs, auch die Pflanzen- und Tierornamente der Bögen und umlaufenden Reliefbänder, im Frühmittelalter bunt bemalt vorstellen. In den Heiligenschein Christi und des Königs sowie auf ihrem Mantelsaum und in den über ihnen schwebenden Kreuzen waren Edelsteine eingelassen. Die Farben und der Goldgrund sind längst verwittert, doch der Stein hat dem Zerfall erstaunlich gut widerstanden. Das Ankerkreuz im Relief-dekor und auf den Grabsteinen, aus dessen verzweigten Armen bald gezähmte, bald üppig-ornamentale Blattranken austreiben, stellt in der armenisch-christlichen Symbolsprache den Lebensbaum dar.

Der halb von Gras überwucherte Steinboden südöstlich der Kirche und des Friedhofs bezeugt noch die Lage der Klostergebäude. Die klösterliche Stille lebt auf der herrlichen Insel fort. Sie wird unterbrochen, wenn ein Boot mit europäischen, japanischen oder amerikanischen Touristen anlegt. An einem heissen Tag nehmen bisweilen privilegierte Besucher, zum Beispiel die Gouverneure von Hosap oder Gevas mit ihren Bewachern, in der Idylle der felsigen Bucht ein ungestörtes Bad. Nur an Sommer-Wochenenden herrscht in der Ostbucht reger Badebetrieb und Familien oder Gruppen junger Besucher aus der Region braten an Picknickplätzen auf dem Sattel bei der Kirche Barbecues und Lammkeulen. Heute lebt kein einziger Mensch auf Ahtamar. Das klösterliche Schweigegebot bindet keinen Bewohner mehr. Das Schweigen über die armenische Leidensgeschichte wird von den meisten kurdischen und türkischen Besuchern wohl aus Unwissenheit nicht gebrochen. Jene, die darum wissen mögen, wagen es nicht, die heikle Vergangenheit anzurühren oder gar eine andere als die offizielle Meinung zu vertreten, weil der Bruch eines darüber verhängten Tabus Diskrimination und Strafverfolgung nach sich zieht. Sie schweigen entweder aus Opportunismus oder aus einer nationalistischen Borniertheit, welche sich gegen jedes Eingeständnis sperrt, die damaligen Machthaber und ihre Mitläufer hätten sich 1915 dazu verschworen, die armenische Bevölkerung aus dem Verband der Nation auszustossen und planmässig zu liquidieren.


Fragen und unverfängliche Antworten

Wir bestiegen den Berg über der Kirche, welcher auf der Rückseite schroff in den tiefblauen See abstürzt. Möwen und andere Seevögel nisten in den Klippen.  Dort oben, wo den Besucher die Aussicht mit einem Schwindelgefühl überwältigt, kamen wir mit kurdisch-türkischen Geschichtsstudenten ins Gespräch. Wir waren natürlich neugierig, ihre Auffassung der Ereignisse zwischen 1915 und 1918 in Erfahrung zu bringen. Wenn wir allerdings keine peinliche Konfrontation provozieren wollten, mussten wir uns bewusst
auf Fragen beschränken, wie sie Touristen stellen könnten, welche mit der türkischen Geschichte nicht vertraut sind. Uns interessierte, ob die Vergangenheit der einst bedeutenden christlichen Minderheit überhaupt thematisiert wird und wie das Vorhandensein der in Ostanatolien und im Schwarzmeergebiet besonders zahlreichen Relikte armenisch-christlicher Kultur in den Kontext der türkischen Geschichte eingeflochten wird. Ahnungslosigkeit vortäuschen, Vorkenntnisse verleugnen - gab es in Anbetracht der Tabuisierung des Themas keine andere Möglichkeit, das Gespräch über die historischen Gegebenheiten vor unseren Augen zu führen? Falls wir uns auf die Gratwanderung des Zwiedenkens einliessen, konnten wir mit einiger Einfühlung wahrnehmen, ob und wie weit unsere Gesprächspartner dieses selbst praktizierten. Bot sich dann nicht wenigstens Gelegenheit, dass uns der Durchbruch zu einer Begegnung jenseits der vom Staat verordneten Zensur gelänge?

Es lag auf dieser Insel nahe zu fragen, wann die christlichen Mönche das Kloster, das ja bezeugt ist, verliessen und warum es zerstört ist, während die Kirche noch steht. Die Antwort erstaunte uns. Die Geschichtsstudenten entrückten die Zerstörung des Klosters in eine ferne osmanische Vergangenheit, in der sie zur Not als Geschichtslegende hingehen kann, welche jede konkrete Frage erspart. Irgend ein Sultan hat im 16.Jahrhundert das Kloster auf Ahtamar niederreissen lassen, weil er einen Zorn auf die Armenier hatte, was bei der Launenhaftigkeit der Sultane nicht verwundert, denn vielleicht unterschlugen die Klosterherren steuerbare Einnahmen. Aber schon sein Nachfolger sollte bestimmt haben, so die Version der Studenten, dass die Kirche erhalten bleiben müsse. Damit machte er wohl die Willkür seines Vorgängers wieder gut und rechtfertigte den Ruhm, den die grossen unter den Sultanen als gerechte und weise Kalifen sowie als bedeutende Mäzene und Bauherren geniessen. Genaueres erfuhren wir nicht.
Wer anders als der kriegerisch-verwegene Selim I. Yavuz, der Gestrenge, kann im 16.Jahrhundert der gegen die Christen Grollende gewesen sein? Und wer anders kommt als der Gnädige in Frage, wenn nicht dessen Sohn und Thronfolger, der mit einer langen Regierungszeit beglückte grosse Bauherr Süleyman I. Kanuni, der Gesetzgeber, von vielen auch „der Prächtige“ genannt? Es ist denkbar. Die historische Realität ist freilich ernüchternd und weit komplizierter als die gefällige Geschichtslegende vorgibt.

Auch wenn sie die Minderheiten nicht-islamischer Religion als Subjekte zweiter Klasse betrachteten und ihre Rechtsstellung beschnitten, zeichneten sich die Herrscher des Osmanischen Grossreichs vom 15. bis zum 19.Jahrhundert gegenüber den armenischen Christen weit stärker durch kalkulierte Toleranz aus als die Regenten der nationalistischen Epoche, welche mit der pantürkischen Politik Abdulhamids II. einsetzte. Schweren Pogromen gegen die Armenier im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert folgten im Frühjahr 1915 - wenige Monate nachdem das Osmanische Reich dehn alliierten Mächten den Heiligen Krieg erklärt hatte - der organisierte Genozid.

Wir konnten bei unserer Begegnung auf dem höchsten Punkt der Insel Ahtamar keine Diskussion über unterschiedliche Interpretation der Hintergründe des Geschehens erwarten. Wir führten in vagen Ansätzen ein Gespräch über die Vergangenheit, welches den heiklen Problemen peinlich auswich. Es war, als ob wir eine stillschweigende Abmachung getroffen hätten, dass wir auf keinen Fall Position bezogen oder durchblicken liessen, dass wir in der Sache eine unterschiedliche Auffassung hatten.

Die grosse Distriktsiedlung Gevas am gegenüberliegenden Ufer trug einmal einen armenischen Namen, nämlich Vostan, heute einen türkischen. Warum? Diese Frage ist verfänglicher. Doch wo Belege fehlten würde eine sozialgeschichtliche Theorie wohl einleuchten. Die arglose Antwort kam nach kurzem Nachdenken:  Die Armenier seien eben im Lauf der Zeit - das heisst wohl über Generationen und Jahrhunderte - assimiliert worden. Eine solche Erklärung würde genau besehen nichts weniger bedeuten, als dass sie auch den islamischen Glauben angenommen hätten. Dass sie also ihre Schriften nicht mehr pflegten, sondern vergassen und verkommen liessen. Und dass sie mit der freiwilligen Konversion auch ihre Sprache aufgegeben und das Türkische übernommen hätten. Anders als die Kurden welche ihrerseits der türkischen Sprache zwar bloss den Vorzug gaben, den sie als einheitliche  Verkehrs- und Verwaltungs-sprache hatte, ohne damit jedoch je ihre Muttersprache und den Anspruch auf kulturelle Autonomie preiszugeben und ihr Kurdentum zu verleugnen.

Es gibt über eine solche Theorie hinaus keine offenen Fragen. Von den Armeniern, welche noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Türkei lebten - nach Schätzungen etwa 2,5 Millionen - hätten etwa 600`000 als Flüchtlinge oder durch Umsiedlung Anatolien verlassen oder wären als Opfer des Kriegs zu verzeichnen; die übrigen wären durch vollkommene Assimilation kulturell und ethnisch Türken geworden. Das Ausmass der Geschichtslüge ist ungeheuerlich. Die wenigen Armenier, es sind lediglich etwa 70`000, welche in der Türkei offiziell heute noch leben, müssten entweder so weitgehend assimiliert sein, dass sie die Ereignisse vergessen hätten oder - sie schweigen! 

“Assimilation“ ist die Erklärung, von “Deportation und Vernichtung“ darf nicht die Rede sein. Umsied-lungsaktionen (auch Zwangsumsiedlungen oder Vertreibungen) haben in der osmanischen und türkischen Geschichte eine bis zur Gegenwart anhaltende Tradition - auch darüber wird man in bestimmten Bezügen besser kein Wort verlieren, wenn man sich Schwierigkeiten ersparen will. Umsiedlungen sind offiziell immer zum Wohl der Betroffenen durchgeführt worden, was im Fall der Armenier während des Ersten Weltkriegs gemäss der offiziellen Geschichtsdoktrin nichts anderes zu bedeuten hat, als dass sie zu ihrem Schutz vor Uebergriffen und feindlichen Angriffen vorgenommen worden sind. Warum soll man die Theorie hinterfragen, da doch keine in der Türkei verfügbare Quelle eine andere Geschichte belegen darf und Gras seit unbestimmbarer Zeit über den Friedhöfen wächst und im Herbst verdorrt, und Gras nicht nur in  den Steinfugen des Kirchengemäuers auf Ahtamar, sondern auch zahlreicher anderer armenischer Ruinen Wurzel schlägt? 

Noch eine Frage lässt uns keine Ruhe: Wie erklären die Bewohner Ostanatoliens das Vorhandensein (oder Nicht-Vorhandensein) der legendären „armenischen Goldschätze“, welche sie seit bald einem Jahrhundert in Bann schlagen? Ueberall sollen sie verborgen sein, in Höhlen und Gemäuern, oder vergraben unter Steinen. Und auf Fels sind geheimnisvolle Zeichen eingeritzt, welche richtig entschlüsselt die Ver-stecke verraten: Kreuze, Pfeile, Zackenornamente, Schlangen, Falken. Kaum ein Dorf zwischen Hakkari und Erzurum, in welchem der Besucher nicht beiseite geführt und auf das Thema angesprochen wird. Ob er etwa Gold suche, ob er einen Detektor bei sich habe, ob er über Informationen verfüge. Die Legende wird durch Gerüchte genährt: Der oder jener ist plötzlich weggezogen und in der Stadt - in Istanbul etwa - zu unerklärlichem Reichtum gekommen. Er wird einen Schatz gehoben und Geld in Immobilien gesteckt haben! Bei der unermesslichen Zahl der vermuteten (selten wohl entdeckten) Fundorte müsste sich die Frage aufdrängen: Wo sind heute die Menschen, welche die Schätze - Gold, Münzen, Schmuck - vergraben haben, und warum kehren sie nicht zurück? Dass es sich um Armenier handelt, wissen die Befragten wohl. Aber eine andere als die einfältige Antwort erwartet den Fragenden nie: Sie sind, wie viele Leute auch heute noch, fortgezogen, emigriert eben, und nicht mehr zurückgekehrt - wahrscheinlich sind sie inzwischen verstorben.




Die Geschichte

Im Osten Anatoliens trug ein römisches Vasallenreich, das sich vom Transkaukasus südlich über den Vansee bis in die Gegend von Bitlis und westlich an die Euphratgrenze bei Malatya (Melitene) erstreckte, den Namen „Armenien“. Die Reichsgründungen armenischer Fürsten des Frühmittelalters, welche das Hochland vor dem Eindringen der Türkvölker politisch zusammenfassten, festigten die Tradition der Bezeichnung dieser historischen Region. Das durch das Vordringen des Islams, durch Völker-wanderungen und Eroberungszüge beunruhigte Ostanatolien war allerdings seit jeher ein ethnisches Mosaik und ein Spannungsfeld unterschiedlichster religiöser Bekenntnisse. Seit dem 15.Jahrhundert teilten die christlichen Armenier ihr Verbreitungsgebiet hauptsächlich mit den nach Norden drängenden und inzwischen islamisierten kurdischen Nomadenstämmen. Nach den schweren Machtkämpfen zwischen Osmanen und Safawiden um das Hochland von „Ermenistan“, nach Verwüstungen, Massakern und Deportationen, trug noch eine Provinz des Osmanischen Reichs den Namen „Armenien“, bis er im 19.Jahrhundert - in einer Epoche nationalistisch-grosstürkischer Politik - erlosch.  Er fiel endgültig einer administrativen Neugliederung zum Opfer. Sie sollte für alle Zukunft verhindern, dass die Identität der armenischen Minderheit sich mit einer bestimmten politischen Geographie verbinden konnte.


Rückblick auf das 16.Jahrhundert: Armenien in der Epoche der Auseinandersetzungen zwischen Osmanen und Safawiden

Ein halbes Jahrhundert nach der Eroberung Konstantinopels war der Herrschaftsanspruch im östlichen Grenzgebiet noch unentschieden. Die Osmanen und das persische Reich der Safawiden, welches 1501 unter Schah Ismail den in der Bevölkerung verbreiteten Schiismus zur Staatsreligion erhob, konkurrierten um die Macht über das armenische Hochland, den Transkaukasus und Mesopotamien. Selim I. unterdrückte zunächst blutig die schiitischen Anhänger Persiens in Ostanatolien, die militanten und von messianischem Sendungsbewusstsein erfüllten Kizilbas, bevor er Ismails Heer 1514 bei Caldiran, nördlich des Vansees, dank überlegener Waffentechnik schlug. Die Kizilbas, welche den Shah als Mahti (Messias) verehrten, wurden nach ihrer roten Mütze bezeichnet, deren zwölf Zottel die Propheten der Zwölferschia symbolisierten. In der Fusstruppe des safawidischen  Gegners bildeten in Persien und Ostanatolien rekru-tierte Armenier die Phalanx. Als heimlicher Bündnispartner Ismails hatte vor dem Treffen der türkmenische Fürst von Zulkadr, Herr über die armenischen Christen im Gebirge von Maras, unter Selims Janitscharen intrigiert. Die Elitetruppe der Janitscharen, über die Knabenlese zum Militärdienst erzogene islamisierte Christensöhne, waren dem Sultan zu dieser Zeit nicht mehr bedingungslos ergeben. Eine enge Beziehung verband das Janitscharenkorps mit der Derwisch-Bruderschaft der Bektaschiten. Die Mitglieder dieses schiitischen Ordens, dessen Glaube Allah, Mohammed und Ali zu einer Trinität zusammenschloss, waren Anhänger der Seelenwanderungslehre. Sie galten als „Seelsorger“ der Janitscharen und hatten eine reli-giös liberale, den Christen gegenüber tolerante Haltung. Selim brach den Widerstand der Janitscharen durch eine brutale Strafexekution und nahm nach der Schlacht von Caldiran auch am Fürsten von Zulkadr blutige Rache. Das Fürstentum Zulkadr, in dessen Gebirge die zweifellos schon damals rebellische armenische Hochburg Zeytun lag, fiel ebenso wie die Regionen Diyarbakir und Bitlis 1514/15 unter die osmanische Herrschaft.

Die schiitisch inspirierte Mahti-Bewegung war schon im 15.Jahrhundert ein Unruhefaktor. Sie entfaltete sozialrevolutionäre Energien und gewann in der seit den Umwälzungen durch den Mongoleneinfall verarmten Bevölkerung - unter Kleinbauern und Landlosen - eine besonders hellhörige Anhängerschaft. Eine von Bayezit II. eingetriebene Sondersteuer zur Sanierung des Staatshaushalts weckte in Anatolien Unzufriedenheit. Der von den schiitischen Kizilbas 1511 ausgelöste Sahkuli-Aufstand stützte sich auf die politi-sche und militärische Rückendeckung der Safawiden. Schah Ismail paktierte zunächst mit turkme-nischen oder kurdischen Emiraten und kurdischen Scheichs gegen die Osmanen und begünstigte auch die armenischen Christen. Da er sich aber weniger auf Taktik als auf Druck verliess und lokale Führer durch ihm ergebene Kizilbas-Warlords aus ihrer Macht zu verdrängen begann, wandten sich manche unter ihnen an die Osmanen um Hilfe. Der durch die Expansionspolitik der Safawiden entbrannte und als religiöse Mission propagierte Machtkampf entfesselte bald hemmungslose Aggression und Terror von Seiten beider Gegner. Während dem Vormarsch der schlagkräftigen Kizilbaz-Truppen unter dem Kom-mando von Ismails Schwager Mohammed Bey Ustalyu kam es in Ostanatolien - zum Beispiel bei der Belagerung von Diyarbakir - zu Gräueln sowohl gegen die sunnitische Bevölkerung und ihre geistlichen und politischen Führer, als auch gegen Christen und Juden. Quellen bezeugen die Einäscherung von Dör-fern, die Zerstörung von Klöstern und Kirchen, die Hinrichtung von Priestern, die Massakrierung von Dorf- und Stadtbewohnern. Die antihierarchische Tendenz der von den Safawiden als Machtmittel benützten Häresie bedrohte die politische und soziale Ordnung. Dem safawidischen Machtanspruch erwuchs des-halb in der turkmenischen Aristokratie und den paternalistisch formierten Stämmen zunehmend Widerstand, welchen die Osmanen förderten und für ihre Zwecke instrumentalisierten. Ihre militärische Expedition gewann die Oberhand und sie übten an ihren Gegnern, vor allem an den Kizilbas, syste-matische Vergeltung.

Die schiitische Häresie in „Armenien“, welcher später das traditionell staatskritische Alewitentum ent-wuchs, war mit der Strafexpedition Selims gegen die Kizilbas und seinem Sieg bei Caldiran allerdings bei weitem nicht unter Kontrolle. 1519 brach in der Region von Tokat, der von einer starken armenischen Gemeinde bewohnten Pontusstadt, unter der Führung des Scheichs und selbsternannten Mahti Celal eine vorübergehend bedrohliche Revolte aus: der möglicherweise von Kizilbaz angeführte „Celali“-Aufstand. Der radikale Widerstand gegen die betont zentralistische Herrschaftsstruktur des osmanischen Reichs, welches den orthodoxen Sunnismus als ausschliessliche Staatsreligion anerkannte, sammelte sich vorwie-gend in Sekten, deren spirituell-mystische Auslegung der Offenbarung unter der tribal organisierten und nach wie vor schamanistischen Traditionen anhängenden Bevölkerung in den anatolischen Weidegebieten leidenschaftlichen Zuspruch fand. Selbst innerhalb des safawidischen Reichs, welches den Schiismus offiziell anerkannte, hatte der religiös begründete Widerstand einen heterodoxen Charakter. Es kam wiederholt vor und mit dem Risiko war später immer zu rechnen, dass sich Unruhen um das Auftreten eines Stammesführers oder Sheiks entfachten, welcher sich selbst zum Mahti - dem nach der Prophe-zeiung als der wahre Herrscher wiederkehrenden zwölften Imam - oder zu dessen Vorboten erklärte.

Auf dem Hintergrund wechselnder Machtverhältnisse waren die Armenier Anatoliens während der militärischen Auseinandersetzung zwischen den Osmanen und den Safawiden wohl weniger aktiv als zwangsläufig Partei. Im osmanischen Reich praktizierten sie unter gewissen Restriktionen ihren Glauben und genossen wie andere nicht-islamische Religionsgemeinschaften (Millets), welche als „Schriftbesitzer“ galten, zum Beispiel die griechisch-orthodoxen Christen oder die Juden, eine relativ weit gehende Autono-mie. Sie lebten nach den Gesetzen ihres Bekenntnisses und ihre kirchlichen Autoritäten verfügten über die richterliche Gewalt. Die Rechtsprechung wurde allerdings auf ihre Vereinbarkeit mit den Rechtsnormen des islamischen Staats überprüft und im Fall von Rechtsstreitigkeiten mit islamischen Bürgern wurde nach osmanischem Recht geurteilt. Ueber die Grundsteuer hinaus zahlten die Armenier wie die anderen nicht-islamischen Millets eine besondere Kopfsteuer; als Gegenleistung wurde ihnen der Schutz von Leben und Gut zugesichert. Als „Schutzbefohlene“ waren sie dem Sultan unterstellt und durften an ihn appellieren; ihm aber waren sie auch Rechenschaft schuldig. Von Regierung und Heeresdienst waren sie grundsätz-lich ausgeschlossen, doch wurde diese Regel im Lauf der Zeit durchbrochen.   
    
Während seinen folgenden Feldzügen gegen die Mamelucken im Orient hatte Selim 1517 den Armeniern wahrscheinlich aus politischem Kalkül noch den Schutz ihrer Einrichtungen und ihres Besitzstandes zugesichert. Als er nach dem Krieg in Syrien und der  Eroberung Aegyptens als Kalif der Rechtgläubigen (Schutzherr über die heiligen Stätten des Islams) nach Istanbul zurückkehrte, befahl er 1520, die christlichen Kirchen des Reichs zu Moscheen umzubauen und verfügte die Zwangskonversion aller Christen. Doch bevor er diese vielleicht bloss als Druckmittel angedrohte Willkür ins Werk setzen konnte, starb er - vermutlich an der Pest. Der Thronfolger, Süleyman I., hob zwar den Befehl seines Vaters auf, bekräftigte aber das Gesetz, welches Christen untersagte, neue Gotteshäuser zu erbauen. Die griechisch-orthodoxe Kirche berief sich zu ihrer Verteidigung gegen das Religionsverbot auf eine Verfügung Mehmets II.. Dieser hatte nach der Eroberung Konstantinopels ihr Verhältnis zum Reich geregelt, indem er sie als Millet in den Staat einband und ihr die Unversehrbarkeit des Kirchenbesitzes zusicherte. 

Für die armenischen Christen galt, soweit sie dem Patriarchat in Konstantinopel zugewendet waren, eine ähnliche Garantie. Die Katholikate Etschmiadsin, Sis und Ahtamar lagen allerdings entweder ausserhalb des gesicherten osmanischen Herrschaftsbereichs oder - wie Ahtamar - zumindest im strittigen Grenzge-biet. Die osmanischen Armenier in Ostanatolien verachteten den Patriarchen von Istanbul stillschweigend als Verräter. Sie konnten sich seiner Autorität und der politischen Aufsicht der Hohen Pforte zwar eher entziehen als ihre Glaubensbrüder im Westen, doch war ihre Situation in den Phasen gewaltsamer osma-nischer Expansion ohne Zweifel schwierig. Grundsätzlich hielten sie sich als christliche Millet mit Vorteil aus den religiösen Wirren heraus. Trotzdem ist es naheliegend, dass sie in der Epoche religiös und zu-gleich machtpolitisch motivierter Auseinandersetzungen zwischen den Grossmächten verfeindeter islami-scher Glaubensparteien in heikle Entscheidungskonflikte verwickelt wurden. Sultan Selim hatte zur Sicherung seiner Eroberungen die Ansiedlung sunnitischer Kurden in Armenien durch Steuerbefreiung gefördert, wodurch das Potential an Spannungen um territoriale Ansprüche wuchs. Die untergeordnete Rechtsstellung, Bekleidungsvorschriften und effektive oder als Erpressungsmittel wiederholt angedrohte Einschränkungen des christlichen Kults im osmanischen Reich erzwangen die Abschliessung der Millet und das strenge Festhalten an der armenisch-kirchlichen Tradition. Armenier und Kurden trennten nicht nur ihre unterschiedlichen Bekenntnisse, sondern auch praktische Interessengegensätze - etwa wenn es um Weide- oder Quellnutzungsrechte oder den Anspruch kurdischer Nomaden zur Ueberwinterung in armenischen Dörfern ging. Immerhin waren sich die unabhängigen Kurdenstämme und die Armenier Ostanatoliens im politischen Widerstand gegen die Zentralmacht regional - besonders in den umstrittenen Grenzgebieten -  oft auch einig und fanden zu ihrem Vorteil Wege, ihre Konflikte unter sich - ohne Einmischung der osmanischen Regierung - zu lösen.  

Seit den Kreuzzügen fand im Orient verstärkt der interreligiöse Dialog statt. Christliche und muslimische Theologen analysierten polemisch die Unterschiede, aber auch vermittelnd die Gemeinsamkeiten der Offenbarung zwischen der Thora, den Evangelien und dem Koran, diskutierten verschlüsselte Hinweise etwa des Buchs Jesaia auf den Propheten Mohammed oder die Stellung Jesus im Islam. Besonders drehte sich die theologische Auseinandersetzung um den Beweis des göttlichen Ursprungs der ver-schiedenen Schriftoffenbarungen. Im 13.Jahrhundert vertrat der in Konya lebende sufistische Dichter und Mystiker Dschelal`du-Din Rumi eine Heilslehre, nach welcher die Entwicklung aller Wesen durch Seelen-wanderung zur höchsten Perfektion in Gott zielt, das heisst, letztlich in einen Zustand mündet, in welchem alle Polaritäten, also auch die Unterschiede zwischen den Religionen, sich auflösen. Seine radikale Sicht begründete die Möglichkeit eines über die einzelnen Religionen hinausweisenden universalen Bekennt-nisses. Gnostisch-esoterische Tendenzen des Sufismus und eschatologisch gestimmte Prophetie eines radikalen Schiismus begünstigten unter dem Leidensdruck unruhiger Zeiten revolutionäre Kritik am Formalismus der Orthodoxie und der mit ihr unerbittlich konformen Staatsmacht. Unter den politischen Umständen des 16.Jahrhunderts fanden sich Christen und Muslime in Anatolien denn auch tatsächlich vereinzelt zu gemeinsamer chiliastisch inspirierter Auflehnung gegen eine staatliche Macht, welche einerseits die Bevölkerung durch Steuerlasten und Kriegskontributionen bedrückte, andererseits aber Schutz und Rechtssicherheit nicht mehr gewährleisten konnte.   

Süleyman I. wandte sich bei seiner planvollen Reichserweiterung zuerst nach Westen, eroberte Belgrad, entriss den Johannitern Rhodos und dehnte die osmanische Herrschaft 1526 über Ungarn aus. Doch 1527 mussten seine Truppen in Anatolien mit der Bauernrevolte unter dem messianischen Bektaschi-Shah Kalender fertig werden. Die islamische Häresie keimte sogar in Istanbul auf, wo der Ulema Kabiz Mollah, ein abtrünniger Sunnit, politische Unruhen entfachte und hingerichtet wurde, weil er für die Bruderschaft mit den Christen warb und Jesus im Rang der Propheten über Mohammed setzte.

In Ostanatolien handelten die kurdischen Emirate und unabhängigen Stämme ihre wechselnde Loyalität gegen die Zusicherung politischer Autonomie und Steuerfreiheit ein. Die Stadt und Provinz Bitlis südwest-lich des Vansees schlug sich 1532 im offenen Aufruhr auf die Seite der Safawiden. Armenische Handwer-ker und Händler bildeten den überwiegenden Anteil der Stadtbürger von Bitlis und die armenischen Bauern der Provinz genossen nach der Chronik Scharafname den besonderen Schutz des christen-freundlichen kurdischen Stamms der Ruzegi. Die Chronik mag die Verhältnisse und besonders die Grosszügigkeit dieses Stammes idealisieren, doch belegt sie das Bestehen einer Solidargemeinschaft zwischen Kurden und Armeniern. Die Ereignisse von Bitlis forderten Süleyman zu einer Machtdemonstration gegen die Safawiden heraus. Im Feldzug von 1534 unterdrückte das osmanische Heer den Aufstand und besetzte erneut die safawidische Hauptstadt. Wie in Bitlis stellten auch in Täbris armenische Kaufleute und Hand-werker einen alteingesessenen Kern der Bürgerschaft. Zahlreiche Angehörige der gewerbetreibenden  armenischen Stadtbürgerschaft wurden nach Westanatolien deportiert. In einem raschen Vorstoss nach Mesopotamien annektierte Süleyman darauf Bagdad. Er gewann zwar reiche Beute, aber nur eine befriste-te Entlastung.

Nach langwierigen militärischen und diplomatischen Auseinandersetzungen in Europa eröffnete Süleyman erst 1548 einen weiteren Feldzug gegen die Safawiden in der Absicht, die Grenzfrage im Osten endgültig zu regeln. Gegen seine von Kamelen über die Pässe transportierten Kanonen hatte die bewegliche  asiatische Kampffront erfahrungsgemäss keine Chance. Der Schah zog sich wie früher aus Täbris zurück und das alte Spiel begann von neuem. Doch die Festung Van widerstand der osmanischen Artillerie nicht. Stadt und Provinz blieben nach der Friedensregelung von 1555, von einem späteren Rückeroberungs-versuch Schah Abbas abgesehen, endgültig in osmanischer Hand. Die Festung auf den Fundamenten des urartäischen Tuspa wurde massiv ausgebaut. Zur gleichen Zeit wurde südöstlich von Van an der wichtigen Passverbindung nach Hakkari und Urmia - ebenfalls auf urartäischen Fundamenten - die Festung Hoshab in ihrer heutigen eindrücklichen Gestalt errichtet. Die osmanisch-persische Grenze, seit 1555 mehr oder weniger identisch mit der heutigen, trennte das historische Armenien in eine östliche und westliche Hälfte. Die Grenze, welche auch das Siedlungsgebiet der Kurden politisch teilte, schloss die Gebirgsregionen allerdings nicht hermetisch gegeneinander ab. Sie blieb vielmehr  - damals wie noch heute - für die Trans-humanz und den Schmuggel passierbar. 

Während des türkisch-persischen Kriegs von 1548-55, der ohne Schonung der Bevölkerung geführt wurde, richteten die armenischen Bischöfe durch Delegationen an den Papst und die christlichen Mächte Europas erfolglose Hilfsgesuche. Erivan war 1554 von der osmanischen Armee erobert und vernichtet worden. Ostarmenien blieb bedroht. Das christliche Europa war einerseits auf die politischen Folgen des europäischen Schismas, andererseits auf die Abwehr der osmanischen Front in Ungarn und auf dem Balkan konzentriert. Schon 1578 brachen die Osmanen unter Murat III. von Trabzon und Erzurum aus über Kars erneut in das Gebiet jenseits des Ararat und Ahurian ein. Sie stiessen sogar bis Tiflis vor - das christliche Georgien war damals ein persischer Vasallenstaat - und zerstörten Städte, Kirchen und Klöster. Nach der Ueberlieferung deportierten sie 60`000 Armenier nach Westanatolien.

Die Machtverhältnisse blieben labil. 1603 fiel der safawidische Schah Abbas der Grosse erneut in Van und Erzurum ein. Der persische Kriegsherr wurde fast ein Jahrhundert nach der Schlacht von Caldiran gegen das Osmanische Reich von den Portugiesen und Engländern, deren koloniale Interessen sich nunmehr auf den fernen Osten richteten, durch die Lieferung moderner Artillerie unterstützt. Zwar scheiterte die Rückeroberung Ostanatoliens und Eriwans, doch gelang es Abbas, das Persische Reich zu festigen. Bei der Räumung verwüstete er das Gebiet und verschleppte seinerseits Armenier rücksichtslos und im grossen Stil. Er siedelte sie vor allem in seiner Hauptstadt Isfahan an. Hier entstand in einem gesonderten Stadtteil eine bedeutende armenische Kolonie, welche im 17.Jahrhundert 60`000 Familien umfasst haben soll.
 
Die im 16.Jahrhundert wütenden Kriege der verbrannten Erde, die Zwangsrequisitionen und Plünderungen bedrückten die Bevölkerung und richteten die Wirtschaft zugrunde. Allerdings erkannten die osmanischen Sultane genauso wie die Safawidenherrscher das wirtschaftliche Potential der christlichen Minderheit. Schon Selim I. begann Armenier - etwa Handwerker aus Täbris - in den Westen umzusiedeln. Wie zur Zeit des europäischen Merkantilismus verfolgten Umsiedlungen und Deportationen damals - ganz anders als in der Epoche des Nationalismus! - in erster Linie  wirtschaftspolitische Ziele. In den armenischen Kolonien, wo Kaufleute und Bankiers sich niederliessen, entwickelte sich der Fernhandel - etwa mit Seide. Begehrt waren in Konstantinopel wie in Isfahan die armenischen Steinmetzen und Goldschmiede, denn in den Hauptstädten wuchs besonders unter der Herrschaft Suleymans I. („des Prächtigens“) das Bedürfnis nach architektonischer Prachtentfaltung und Luxus. Armenier machten in Konstantinopel - gegen die ursprüng-liche Ausschliessung - nicht selten auch im Hofdienst und der Verwaltung Karriere.

Die im Frühmittelalter mächtige armenische Residenz- und Handelsstadt Ani in Nordost-Anatolien war im 11. Jahrhundert unter die aus politischer Räson prinzipiell tolerante islamische Herrschaft der Seldschuken gefallen. Nach einer kurzen Spätblüte unter der Hoheit eines armenisch-georgischen Geschlechts verlor Ani im Spätmittelalter - nach dem Einfall der Mongolen und der Zerstörung durch ein schweres Erdbeben - endgültig an Bedeutung. Seit der Seldschukenherrschaft begann der Exodus der Armenier nach Georgien und vor allem nach Kilikien, wo in der Kreuzzugszeit ein Königreich Kleinarmenien im Bündnis mit dem christlichen Europa bis ins 14.Jahrhundert Bestand hatte. In Grossarmenien fiel die Entscheidung im 16. Jahrhundert. Van, die ehemalige Residenzstadt des Armenierreichs von Vaspurakan, behielt fortan fern vom osmanischen Machtzentrum als Provinzstadt eine vorwiegend strategische Bedeutung. Die Hoheit über Eriwan und das transkaukasische Armenien blieb dagegen zwischen Persien und den osmanischen Invasoren lange umstritten, bis 200 Jahre später Russland als Schutzmacht auftrat und den Transkau-kasus annektierte.

Das historische Armenien war durch Invasion und Unterwanderung, Exodus und mehrfache Teilung aufge-löst. In den von den Osmanen annektierten Gebieten waren die Armenier als Millet ins Reich eingebun-den, doch die armenische Kirche war als Organisation gespalten. Das Katholikat von Sis in Kleinarmenien war zur Zeit der Kreuzzüge in eine Kirchenunion mit Rom eingetreten. Um Ahtamar sammelten sich seither die antiunionistischen Kräfte. Im 15.Jahrhundert misslang die Vereinigung der grossarmenischen Katholikate Etschmiadsin und Ahtamar. Zur gleichen Zeit inaugurierte Mehmet II. in Konstantinopel ein armenisches Patriziat, welches seinen Vorrang allerdings nie - nicht einmal formal - wirklich durchsetzte. Im 16.Jahrhundert vertiefte sich die Spaltung und der Exodus schritt fort.

In Ostanatolien wuchs der Druck neu angesiedelter Kurdenstämme. Sie wurden von den Osmanen durch Teilautonomie gezielt begünstigt. Die armenische Landflucht nahm deshalb zu. Armenier siedelten sich zunehmend in den Provinzstädten an oder emigrierten. Die allgemeine Zerrissenheit und Anfechtung lässt es als möglich erscheinen, dass im 16.Jahrhundert unter den notleidenden armenischen Bauern der rebellische Geist der im 9.Jahrhundert durch den Priester Smbat ins Leben gerufenen urchristlich- kommunistischen Ketzerbewegung der Tondraken (nach dem Dorf Tondrak bei Manaskert) lokal wieder aufflammte. Es ist sogar denkbar, dass armenische Bauern und vielleicht auch Mönche zeitweilig mit der schiitischen Häresie fraternisierten. Gegen heterodoxe Abirrungen spiritualistischer Sekten dürfte das Katholikat von Ahtamar allerdings an der theologischen Tradition und dem Vorbild des Mystikers Grigor von Narek festgehalten und sich für eine Politik der Bewahrung und die Verteidigung der kirchlichen Hierarchie entschieden haben. Dem Dualismus häretischer Bewegungen, welche wie die Tondrakier die Inkarnation Gottes radikal ablehnten, stand die Naturnähe, der nüchterne Realismus des Dichter-Mystikers wohl heilsam entgegen. Seine Poesie war es auch, welche den Armeniern die Schönheit ihrer bedrohten oder verlorenen Heimat in Zukunft bewusst machen und der Erinnerung bewahren sollte.


Die Armenier vor dem Ende des Osmanischen Reichs -
zwischen Reformhoffnung und nationaler Revolution

Im 19.Jahrhundert lebten die Armenier in Russisch-Kaukasien, Anatolien, Nordwestpersien und anderen Gebieten des Orients - ähnlich wie die Juden - zerstreut unter verschiedenen ethnischen Gruppen. Das Gebiet der stärksten Bevölkerungskonzentration lag zwischen dem Sewan-See, der Aras-Grenze zum Iran und dem Araratgebiet um das türkische Igdir (armenisch: Zolakert). Konstantinopel, wo sich eine wohlhabende Kolonie entwickelt hatte, war der Sitz eines armenischen Patriarchats. Relativ starke provinzstädtische Kolonien hatten sich in Anatolien unter anderen in Van (armenisch:Wan), Bitlis (armenisch: Baresch), Musch, Kars, Erzurum, Malatya oder Adana niedergelassen. Als „Millet“ (Nationalität) im Vielvölkerverband waren die Armenier osmanische Untertanen und in Ostanatolien bis zur Reform-Epoche den kurdischen Emiraten eingegliedert, doch verwalteten sie ihre zivilen und religiösen Angelegenheiten teilweise selbst.

Das Verständnis der Ursachen des ethnischen Konflikts erfordert einen Rückblick auf die Reformen der Tanzimat-Zeit, ihren Abbruch während der Regierungszeit Abdülhamids und die Auswirkungen einer Politik, welche durch Spaltung innerhalb und zwischen den Ethnien oder Gruppen unterschiedlicher Reli-gionszugehörigkeit den Zweck verfolgte, in einer Zeit äusserer und innerer Bedrohung die Zentralmacht zu stärken:

Die 1839 durch Sultan Abdülmecid eingeleitete Verfassungsreform hatte nach europäischem Vorbild die von Rasse und Religion unabhängige Rechtsgleichheit der Untertanen angestrebt. Ihr Resultat, die Verfassung von 1876, krankte am Widerspruch zwischen dem demokratischen Gleichheitsprinzip und der Tradition des Kalifats, der historisch begründeten Anerkennung des Islams als Staatsreligion. Die Säkularisierung des Staatswesens war eine wesentliche Voraussetzung für die Verleihung der durch die Reform versprochenen Gewissensfreiheit an die Nationalitäten des osmanischen Reichsverbands. Zwar begründete die ottomanische Verfassung, welche sich am Code Civile orientierte, theoretisch die Gleich-heit der Bürger unter dem vom Staat garantierten Recht. Doch der in der Epoche des Nationalismus sich verschärfende Konflikt zwischen den Millets und ihren repräsentativen Organisationen - zum Beispiel religiösen Bruderschaften oder politischen Parteien - war eine Herausforderung, welcher die Reform nur durch den Rückhalt eines politisch und wirtschaftlich stabilen Staatswesens gewachsen sein konnte. In der Praxis widersprach das Prinzip der Rechtsgleichheit insbesondere dem im Osten Anatoliens dominierenden traditionellen Stammesrecht. Die Durchsetzung des modernen Rechtsstaats wurde im 19.Jahrhundert - wie übrigens noch heute - durch die feudal-paternalistische Gesellschaftsstruktur behindert. Die Privilegien und Interessen der Grundherren (Agas), der Codex der hierarchisch gegliederten Clans und Stämme sowie die dauernden Rivalitäten zwischen diesen Gruppen blockierten eine fundamentale Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn moderner Rechtsstaatlichkeit. 

Der Reformprozess, welcher eine beschränkte Selbstverwaltung der Millets und die Wahl von National-versammlungen vorsah, war von Spannungen begleitet und kam während der Reform-Jahrzehnte nur teilweise zum Abschluss. Durch die Zentralisierung und Einrichtung einer modernen Provinzialverwaltung wurden die kurdischen Emirate entmachtet. Dadurch veränderte sich das politische Ordnungsgefüge tiefgreifend. Paradoxerweise wurden durch die angestrebte Zentralisierung die zentrifugalen Kräfte befreit. Bisher hatten die Emirate die Beziehungen zwischen den kurdischen Stämmen sowie zwischen den Kurden und den christlichen Armeniern ihres Territoriums geregelt. Sobald ihre vermittelnde Autorität dahinfiel, verselbständigten sich die auf Blutsbanden konstituierten Gemeinschaften. Der Zentralstaat sah sich nun vor der schwierigen Aufgabe, direkt mit den Stammesführern und religiösen Würdenträgern zu verhandeln, um politische Ziele durchzusetzen oder Konflikte zu schlichten. Die Christen blieben trotz der Reform gegenüber der dominanten islamischen Millet der Kurden unterprivilegiert. Da die Reform unvollendet blieb und die feudalen Verhältnisse weiter bestanden, wurden die Armenier nun zwar vom Zentralstaat besteuert, blieben aber in ihren östlichen Stammgebieten auch gegenüber ihren kurdischen Feudalherren vielerorts steuerpflichtig. Im Widerspruch zu den Reformzielen wurde dadurch die Ungleich-heit vertieft und die wirtschaftliche Stellung der Armenier geschwächt.

Nach 1860 kam es zwischen Kurden und Armeniern häufig zu schwerwiegenden Uebergriffen. Eine Reihe von armenischen Aufständen in Ostanatolien, etwa in Van, war Ausdruck der Verbitterung über die Verzögerung der Reformen und die allgemeine Rechtsunsicherheit. Da an einem wirksamen Rechtsschutz mangelte, fachte die wechselseitige Angst vor Uebergriffen die ethnischen Spannungen an. Sie eskalierten in dem Mass, als die Vorbereitungen der Millets zur Selbstverteidigung die staatliche Ordnung unter-wanderten. Die staatliche Macht hielt sich mit Eingriffen in die Geschäfte und Auseinandersetzungen der Gruppen aus politischer Räson zurück. Sie liess unter einem schwankenden Niveau ihrer Aufsichts-funktion die Selbstregulierung der Ordnung innerhalb oder zwischen den Gruppen zu. Sie erzwang die Einführung der Reformen nur vorsichtig oder unterliess sie aus taktischen Gründen, weil Reformen schliesslich ihre eigene Souveränität beschnitten, umgekehrt aber die Auseinandersetzung zwischen den Gruppen ihre Stellung als vermittelnde und ordnungspolitische Macht festigen konnte. Bei diesem Doppelspiel ging der Staat allerdings das beträchtliche Risiko ein, dass sich seine Autorität zersetzte, weil die Massnahmen, welche er von Fall zu Fall ergriff, als willkürlich interpretiert wurden. Die Zuspitzung der Lage verstärkte dieses Risiko gezwungenermassen und die Chance staatliche Autorität gewaltlos durch-zusetzen schwand. Die Entwicklung war unberechenbar.

Die Reform scheiterte endgültig in der Zeit der imperialistischen Expansion Russlands auf dem Balkan und in Transkaukasien. Während des russisch-osmanischen Kriegs setzte Sultan Abdülhamid 1878 die kaum aus der Taufe gehobene und erst teilweise umgesetzte Verfassung für 30 Jahre ausser Kraft. Russland, welches sich als christliche Schutzmacht aufspielte, hatte erneut Kars erobert und stiess an der Achse Täbris-Erzurum bis Dogubayazit (armenisch: Darjuk) und Eleskirt (Alaschkert) vor. Seine Macht ragte damit tief in die von Armeniern und Kurden besiedelten Teile des Osmanischen Reichs hinein. Als das Zarenreich 1877 dem Sultan den Krieg erklärt hatte, rief der Patriarch von Konstantinopel die armenische Millet zur Staatstreue auf. In den Grenzgebieten aber unterstützte die armenische Bevölkerung, von nationalistischen Freiheitsbünden angefeuert, den russischen Vormarsch. England, unter dem Eindruck der russischen Expansion, verbündete sich gegen die Konkurrenzmacht im Mittleren Osten durch ein Geheimabkommen mit dem Osmanischen Reich und erzwang am Berliner Friedens-Kongress 1878 - gegen die Beschwörung des armenischen Patriarchen - immerhin die Rückgabe der besetzten Gebiete von Dogubayazit und Eleskirt, wenn auch nicht von Kars und Ardahan. Nach dem Rückzug der russischen Truppen übten kurdische Stämme indessen wie zu erwarten Rache an den Armeniern. Am Berliner Kongress verhallten die armenischen Appelle um Schutz und Sicherung ihrer Rechte.

Das christlich-orthodoxe Zarenreich verfuhr im besetzten Kars und im Kaukasus genauso nach dem Teile- und Herrsche-Prinzip wie umgekehrt Sultan Abdülhamid im osmanisch kontrollierten Gebiet. Die Armenier sahen sich auch auf der Seite der christlichen „Schutzmacht“ bald in die Zwecke der Machtpolitik einge-spannt. Ihre Hoffnungen auf Freiheitsrechte wurden unter der russischen ebenso wie unter osmanischer Herrschaft enttäuscht und ihre wirtschaftliche Lage verschlechterte sich. Sie erkannten sich als Spielball der imperialistischen Politik. Es ist verständlich, dass sie sich in den osmanischen wie den russisch besetzten Gebieten durch oppositionelle Gruppierungen in Russland oder auf dem Balkan zur Gründung von national- und sozialrevolutionären Organisationen inspirieren liessen.

Durch die britische Rückendeckung gegen den russischen Imperialismus und die wachsende Opposition in den russisch besetzten Gebieten hätte Sultan Abdülhamid genügend Spielraum gehabt, um sich die armenische Bevölkerung - auf ihre loyalen Kräfte gestützt - zu verbünden. Stattdessen verfolgte er unter den Kurden und Armeniern die Taktik der Entzweiung, indem er mit kurdischer Hilfe den ethnisch-religiö-sen Konflikt schürte und gleichzeitig die kurdischen Stammesinteressen gegeneinander ausspielte. 1891 gründete er nach dem Vorbild der Kosakenregimenter irreguläre Kavallerieeinheiten, welche er aus regie-rungstreuen kurdischen Stämmen rekrutierte. Sie waren durch Treueid auf ihn eingeschworenen und wurden nach seinem Namen „Hamidiye“ genannt. Sie bildeten einen in ihrem Umfeld relativ unabhängig agierenden, aber durch die Privilegien von der Zentralregierung und der Person des Sultans abhängigen Machtfaktor. Die Stämme, welche die Regimenter stellten, waren durch Steuerfreiheit begünstigt und sowohl der Wehrpflicht als auch der Gerichtsbarkeit der Provinzen entzogen. Durch Grundbesitz und das Recht auf Plünderung belohnt, bauten sie ihre Macht auf Kosten nicht-loyaler kurdischer Stämme - insbesondere Anhängern des alewitischen Glaubens - aus. Gleichzeitig dienten sie als eigenmächtiges Instrument zur Kontrolle und Unterdrückung der armenischen Christen. Die traditionelle Selbstjustiz wurde zugelassen, Willkür trat an die Stelle des Rechts. Zwar griff die Zentralregierung gegen die bewaffnete Strassenräuberei durch, wie sie kurdische Stämme betrieben. Aber sie förderte die Diskriminierung der Armenier in der Tat gezielt, indem sie die loyalen Kurdenstämme durch die Rekrutierung der Hamidiye-Reiterei privilegierte. Ihre verhängnisvolle Zweckpolitik sollte verhindern, dass sich eine gegen sie gerichtete Allianz der beiden grossen nach Unabhängigkeit strebenden Minoritäten anbahnte.

Dank dieser raffinierten Strategie schob das Reich indessen seinen formellen Zerfall bloss auf. Es wurde durch den Abbruch der Reform zum Zweck der Machterhaltung auf Dauer geschwächt. Die Politik Abdülhamids erzeugte ein Klima, welches den Terrorismus begünstigte, sowohl den zugelassenen der nur zu ihrem Vorteil loyalen Kurdenstämme, welche die Zentralgewalt seit je verachteten, als auch den als Gegenwehr legitimierten der armenischen Freischärler und ihrer revolutionären Parteien. Die schreck-lichen Gemetzel des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts in Konstantinopel (1896) sowie in den Zentren der armenischen Widerstandsbewegung, etwa in Erzurum, Van und Sassun (1896 und 1904) oder in Kilikien (1909) sind die Vorspiele der Tragödie des Ersten Weltkriegs, des organisierten Völkermords an den Armeniern.

Die jungtürkische Revolution von 1908 zwang das Sultanat, die Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen. Sie stärkte in Westarmenien vorübergehend die bürgerlich-liberalen Kräfte, welche ihre Hoffnungen auf eine Erneuerung der demokratischen Reform innerhalb des osmanischen Millet-Systems setzten. Die jungtürkische Bewegung war jedoch reaktionär-nationalistisch. Ihre Protagonisten vertraten die Ideologie eines an den Osmanismus anschliessenden rassistischen Pantürkismus. Dieser verdrängte zusehends den noch bis zur zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts durch eine gewisse (vorwiegend zweckpolitisch begründete) kulturelle Toleranz geprägten osmanischen Islamismus. Das verschwommen-protofaschistische Programm der Jungtürken anerkannte keine Minderheitsrechte. Es strebte den Zusam-menschluss der muslimischen Völker innerhalb des türkisch dominierten Kalifats und die Assimilation aller nicht-muslimischen Minderheiten an. Die vorübergehende pragmatische Interessengemeinschaft der Jungtürken und Armenier zerbrach schon 1909, als sich staatliche Schutzeinheiten in Kilikien an schweren Pogromen beteiligten.

Nachdem das Komitee für Einheit und Fortschritt 1909 an die Macht gelangt war, setzte es eine radikal nationalistische Politik durch. Es gab von da an für die Armenier eigentlich keine Chance, dass sich ihr Minderheitsanspruch auf Gleichbehandlung ohne die Preisgabe ihrer Kultur - das hiess ihres Glaubens - erfüllte. Die Niederlage im Balkankrieg 1912/13 vertiefte zweifellos den Hass der türkischen Muslime gegen die christlichen Nationen. Es zeigte sich nun mehr als deutlich: Der türkische Nationalismus bezog einen wesentlichen Anteil seiner Sammlungskraft aus dem Islam. Die säkular orientierte Republik Atatürks hat das Dilemma bis heute nicht überwunden: Die Energie der nationalen Revolution reichte nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs und der Auflösung des Kalifats trotz einer gezielt vorangetriebenen De-Orientalisierung der Kultur nicht aus, die Säkularisation eines nach westlichem Muster organisierten, demokratisch verfassten Staatswesens gegen die Mächte der Tradition kompromisslos durchzuführen.


 
Der Völkermord

Während des Ersten Weltkriegs, unter dem Druck des Vormarschs der russischen und alliierten Armeen am Bosporus und im Transkaukasus, nahm die durch das Komitee für Einheit und Fortschritt organisierte Deportation der armenischen Bevölkerung ihren unheilvollen Lauf. Der Generalsekretär des Komitees formulierte Anfang 1915 das Ziel, „das armenische Volk vollständig auszurotten“ und den Begriff „Armenien“ aus der Geschichte „auszulöschen“. Die politische Zielsetzung  sowie die planmässige und kompromisslose Form ihrer Durchführung verleihen dem Unternehmen den Charakter eines geplanten Völkermords.

Die Tatsache, dass wohl ein Teil der Belege vernichtet worden ist, dass Führungsdekrete im Vorfeld der Tragödie, Protokolle und Ausführungsbefehle nicht vorhanden oder bis heute unzugänglich sind, erschwert die detaillierte Untersuchung der Verantwortlichkeit. Die Aktengrundlagen der auf Druck der alliierten Siegermächte erhobenen Anklagen von 1919, die Protokolle des nur in Teilen und mit unzureichender Konsequenz abgeschlossenen Verfahrens von 1919-21 vor dem Istanbuler Militärgericht und insbeson-dere die Analyse zahlreicher glaubhafter Zeugnisse von Opfern oder engagierten neutralen Beobachtern sowie von diplomatischen Akten aus deutschen Archiven erhärten allerdings wesentliche Tatsachen und erlauben heute ein grundsätzliches Urteil:

Keine Strategie zur Abwehr einer fünften Kolonne des Zarenreichs oder zur Unterdrückung einer drohenden Volkserhebung auf türkischem Gebiet rechtfertigt - auch unter den dramatischen Umständen eines Abwehrkriegs an zwei Fronten! - die Deportation nahezu der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihren zerstreuten Siedlungsgebieten in mittelöstliche Wüstenregionen und die mit ihrer Vertreibung verbundenen vielfach bezeugten Morde und Massaker an wehrlosen Verfolgten, darunter alten Leuten, Frauen und Kindern. Die armenischen Aufstände in Van, Musch, Urfa, Zeytun oder am Musa Dagh zwischen April und September 1915 lassen sich aufgrund der Chronologie der Ereignisse des zweiten Kriegsjahres und in Anbetracht der unzureichenden militärischen Mittel, welche den Aufständischen zur Verfügung standen, nicht länger als Verrat der Solidaritätspflicht gegenüber der Krieg führenden Nation, sondern nurmehr als präventive Aktionen des Widerstands gegen das sich bereits abzeichnende Schicksal der Vernichtung verstehen.

Die kriegerischen Ereignisse dienten als Alibi und zugleich als Deckmantel für die geplante Deportation. Der Verrat rebellischer Gruppen, welche mit Russland paktierten und im Grenzbereich das Terrain für die vorrückende Armee vorbereiteten, gab der Armeeführung den Anlass für eine strategisch nicht zwingende Folge von Aktionen, welche zur Vernichtung der armenischen Nation auf dem Territorium des Osmani-schen Reichs führen sollten, nämlich:

1.  Teile der männlichen Bevölkerung zur Zwangsarbeit aufzubieten und anschliessend zu liquidieren

2.  die in der türkischen Armee dienenden armenischen Soldaten und Offiziere zu entwaffnen, in Arbeits-bataillone einzugliedern und anschliessend umzubringen

3.  den nationalistischen Hass gegen die Armenier gezielt zu schüren und landesweit führende Persön-lichkeiten zu verhaften und zu ermorden

4.  die grossräumig geplante Deportation der armenischen Bevölkerung aus ihren angestammten Sied-lungsgebieten systematisch und mit erbarmungsloser Konsequenz durchzuführen.


Der Ablauf dieser Ereignisse vollzog sich im Einzelnen folgendermassen:

Bereits seit September 1914 wurden in verschiedenen Regionen armenische Männer zwischen 16 und 70 Jahren zu Arbeiterbataillonen zusammengezogen und unter unmenschlichen Bedingungen zu Schwerstarbeit im Strassenbau und Transportwesen gezwungen. Viele Armenier kamen bei den Strapazen ums Leben; nach Abschluss der Arbeit wurden die meisten Ueberlebenden erschlagen. Armenier kämpften sowohl in der russischen als auch in der osmanischen Armee an zahlreichen Fronten. Eine grosse Mehrheit diente auf russischer Seite regulär in der Armee oder in armenischen Freiwilligenverbänden, welche sich teilweise aus westarmenischen Deserteuren rekrutierten. Im Februar 1915 verdankte Kriegs-minister Enver Pascha die treue Diensterfüllung armenischer Soldaten im osmanischen Heer; gleichen Tags befahl er ihre Entlassung und gliederte sie nach ihrer Entwaffnung zur Zwangsarbeit in Arbeiter-bataillone ein. Es ist wahrscheinlich, dass durch diese Massnahmen der wehrfähige Teil der armenischen Bevölkerung im Hinblick auf bereits vorgesehene Deportation dezimiert werden sollte. Zur gleichen Zeit wurden die armenischen Staatsbeamten entlassen. Auch die politische Führungselite der Armenier wurde nunmehr systematisch ausgeschaltet. Soweit ihre radikal-nationalistischen Vertreter nicht schon in Haft waren, wurden Politiker und Intellektuelle - zum Beispiel Publizisten und Künstler - seit April 1915 fest-genommen, gefoltert und zumeist ermordet.

Eine schon im August 1914 gegründete militärische Sonderorganisation, die Teskilat-i Mahsusa, welche zunächst zur Infiltration und Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete eingesetzt worden war und seit Kriegsbeginn die Aufgabe versah, die revolutionären armenischen Organisationen zu liquidieren, wurde nach dem Fehlschlag der militärischen Operationen an der Front 1915 mit der Durchführung der zentral geplanten Deportation betraut. Die Teskilat-i Mahsusa hatte 1914 die Armenische Revolutionäre Foederation (ARF, Daschnakzutiun) in Transkaukasien und den russisch besetzten Gebieten vergeblich zu einem Aufstand gegen die russische Herrschaft aufzuwiegeln versucht. Russland benützte die ARF im Gegenzug in Anatolien mit mehr Erfolg, um den Widerstand gegen die Jungtürken zu organisieren. Nach der schweren Niederlage der osmanischen Truppen bei Sarikamis im Winter 1914 - einer selbst-verschuldeten und von der Führung verdrängten Katastrophe - griffen die Teskilat und ihre Banden in Anatolien gegen ARF-Kader und Deserteure mit äusserster Brutalität durch und liessen dabei auch gegenüber der Bevölkerung jede Rücksicht fallen.

Die armenische Bevölkerung, welche nur begrenzt Widerstand leistete, wurde 1915 den Operationen der zentral gelenkten Organisation sowie der Willkür lokaler Machthaber und Sonderkommandos aus kurdischen Stämmen ausgesetzt. Banden von vorsätzlich zur Unterstützung der Aktionen entlassenen Gefangenen und plündernde Mitläufer beteiligten sich hemmungslos an Übergriffen und Massakern. Häufig wurden die männlichen Bewohner der Siedlungen schon vor oder während der Deportation abge-sondert und liquidiert. Viele Armenier wurden Opfer schrecklichster Vergeltungsmassnahmen, zum Beispiel in Bitlis oder Musch. In der Region von Antakya entkamen die Verteidiger am Musa Dagh der Massakrierung im letzten Augenblick; sie wurden an der kilikischen Küste von französischen Schiffen aufgenommen und nach Zypern in Sicherheit gebracht. Im grenznahen Van leisteten armenische Kämpfer zunächst heftigen Widerstand. Doch schon zwei Monate nach der Besetzung der Stadt schloss sich ein Teil der armenischen Bevölkerung den überstürzt abziehenden russischen Truppen an. Unter den Umständen der Kriegszeit litten die Flüchtlinge unter schwerster materieller Not und Verfolgung. Dass Akte der Menschlichkeit und Solidarität der lokalen Bevölkerung mit dem Leiden der Verstossenen bekannt geworden sind, darf nicht unerwähnt bleiben. Allerdings handelt es sich in solchen Fällen vorwiegend um Einzelschicksale.

Insgesamt hatten die Armenier Anatoliens nur eine geringe Chance, sich der organisierten Deportation zu entziehen und als Flüchtlinge in anderen Ländern Aufnahme zu finden. Der Logistik und Koordination voraussetzende Einsatz von Transportmitteln (Eisenbahn) zur Beförderung der Deportierten an die Ausgangsorte der Marschtreks war nachweislich von langer Hand präzise organisiert und erfolgte unter militärischem Geleit. Auf dem bewachten endlosen Marsch in die syrische und irakische Wüste setzten die Organisatoren die Deportierten bewusst dem massenhaften Tod durch Hunger und Seuchen sowie den Ueberfällen und Massakern durch Banden aus.


Selbstverteidigung oder Verrat? Die Erhebung von Van und ihre Vorgeschichte.

Als Sitz eines wichtigen armenischen Katholikats und wegen ihrer exponierten Situation haben die Grenzprovinz Van und ihre Hauptstadt eine besondere ideelle, politische und geostrategische Bedeutung. Ein Blick auf die politische Geschichte Vans in der zweiten Hälfte des 19. und anfangs des 20.Jahrhunderts bis zum Untergang der armenischen Gemeinde ist deshalb für das Verständnis der Auseinandersetzung um die Hintergründe des Geschehens von 1915-17 erforderlich. Das Beispiel zweier Mordanschläge in den Jahren vor Ausbruch des Kriegs gibt Anlass, kurz die Optik der türkischen Geschichtsinterpretation zu erörtern. Zunächst aber sei der Zusammenhang der Ereignisse zwischen 1914 und 1917 kurz rekapituliert.


Die Abfolge und Bedeutung der Ereignisse in Van zwischen 1914 und 1917

Die durch bewaffnete revolutionäre Korps organisierte „Erhebung“ im Stadtzentrum von Van begann am 20. April 1915. Sie dauerte bis zum Sukkurs durch russische Truppen und armenische Freikorps unter russischem Kommando am 18.Mai.

Nach der türkischen Geschichtsversion ist der „Verrat“ von Van und die akute Gefahr einer Invasion der russischen Armee vom persischen Urmia her das auslösende Moment für die strategisch begründete Entscheidung zur Deportation der armenischen Bevölkerung in den Aufmarschgebieten. Die Chronologie der eskalierenden Ereignisse, welche eine differenzierte Analyse erfordert, widerlegt allerdings die offizielle türkische These, wonach die armenische Erhebung von langer Hand koordiniert war und den Zweck verfolgte, die russische Eroberung der Stadt vorzubereiten.

Es ist zwar historisch belegt, dass das regionale Komitee der Armenischen Revolutionären Foederation (ARF) in Verbindung mit den Parteizentralen im russischen Transkaukasus operierte und seit Jahren geheime Waffenlager angelegt hatte. In zahlreichen Dörfern einzelner Distrikte der Provinz Van hatte die ARF ihren politischen Einfluss ausgebaut und eine begrenzte Kontrolle erlangt. Es trifft zu, dass die Organisation, auf die Unterstützung der armenischen Freikorps zählte und im April 1915 als entscheidende Kraft den aktiven Widerstand der armenischen Einwohner gegen die osmanischen Streitkräfte organisierte. Allerdings hatte die ARF in den Jahren seit Beginn ihrer Aktivität in Van bei der armenischen Bevölkerung - insbesondere in der Hauptstadt - nie mit durchschlagendem Erfolg für ihre sozial-revolutionäre Ideologie und die Methoden ihrer militanten Politik geworben. Erst die Notlage erzeugte das Klima der Solidarität, welches ein Befreiungskampf voraussetzt. 

Die von nationalrevolutionären Organisationen und charismatischen Persönlichkeiten propagierte Unab-hängigkeit  k o n n t e  nur durch einen bewaffneten Kampf errungen werden. Angesichts der realen Machtverhältnisse und der unberechenbaren Zielsetzungen des russischen Imperialismus hielten pragma-tische Führer und eine bedeutende Mehrheit der Armenier zu Beginn des Kriegs im November 1914 die Unabhängigkeit für utopisch. Selbst die ARF-Führung in Van verhielt sich in den ersten Monaten des Kriegs betont loyal, da eine solide Mehrheit vor allem unter den führenden Angehörigen des armenischen Bürgertums sich ihren sozialrevolutionären Zielen entgegenstellte. Doch im Lauf des Kriegshalbjahrs 1914/15 wurde aus dem Mythus nationaler Befreiung ein realer Akt solidarischer Selbstverteidigung. Für die heroische Erfüllungstat hat sich die Stadt Van im armenischen Geschichtsbewusstsein festge-schrieben. Möglicherweise gab es schon nach der Verkündung des Dschihads durch das Osmanische Reich, sicher aber spätestens seit Februar/März 1915 im Grunde genommen keine Alternative mehr zum Kampf der armenischen Bevölkerungsminderheit Vans und seiner Grenzprovinz - nicht nur um ihre politisch-kulturelle Unabhängigkeit, sondern um ihr physisches Überleben schlechthin.

Tatsache ist, dass die erneuten kurdischen Uebergriffe schon in der Vorkriegszeit und besonders Ende 1914 allgemein zunahmen. In der Provinz Van hielten sich allerdings Ueberfälle kurdischer Stämme in Grenzen. Dagegen terrorisierten Sonderkommandos und Banden der Teskilat schon lange vor der Erhebung armenische Dörfer im Hinterland der Stadt und in andern Teilen der Provinz. Sie plünderten und zerstörten Häuser und töteten oder vertrieben die Bewohner. Aehnlich wie in Van gingen die Organisa-toren der Vertreibung um diese Zeit etwa in der Provinz Erzurum vor, wo sie zuerst die Dörfer nördlich der Stadt heimsuchten. Die Fahndung nach armenischen Verschwörern, Deserteuren und Waffen galt als das offizielle Motiv der Raids. Beherbergte die Bevölkerung eines Dorfes Deserteure, so wurde sie Opfer kollektiver Bestrafung. Bei der durch die Organisatoren geschürten Verschwörungs-Paranoia erfand sich leicht ein Vorwand zum Terror. Tausende den Gemetzeln entkommener armenischer Dorfbewohner fanden vor und während der Erhebung Zuflucht in der Stadt.

Die durch armenische Freischaren verstärkte russische Armee war nach der türkischen Kriegserklärung in die osmanischen Grenzprovinzen eingedrungen und hatte präventiv Dogubayazit und Karakilise (Agri) sowie die Städte Saray und Baskale in der Provinz Van besetzt. Als die russischen Besetzer sich im Dezember 1914 vor der osmanischen Kaukasusoffensive zurückzogen, verübten die osmanischen Einheiten in den Dörfern dieser Regionen Massaker an der armenischen Bevölkerung. Nach der vernichtenden Niederlage der osmanischen Armee bei Sarikamis im Januar 1915 rückten die russischen Truppen wieder vor, worauf der mit Racheakten verbundene Druck der osmanischen Einheiten gegen die armenische Bevölkerung in der Provinz Van dramatisch zunahm. Das wechselvolle Kriegsgeschehen und die Ausweitung der Kämpfe in den Grenzprovinzen forderte sowohl unter der armenischen als auch unter der islamischen Bevölkerung Opfer. Zehntausende Stadt- und Dorfbewohner erlitten das Schicksal der Evakuation und vorübergehender Vertreibung. Chaos und Not verstärkten sich, als auch islamische Flüchtlinge aus dem russisch besetzten Transkaukasus auf osmanischem Gebiet Aufnahme suchten.

Am 30.März übernahm Jevded Bey, der Schwager Enver Paschas, als Kriegsgouverneur in Van die Macht. Der Kommandeur des Feldzugs in Persien kam aus Baskale, von wo ihm der Ruf als grausamer Schlächter vorauseilte. (Er trug den Uebernamen „der Hufschmied“, weil es hiess, er habe in Hakkari seinen Opfern Hufe an die Füsse nageln lassen.) In der Provinz herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände; eintreffende Nachrichten von Massakern in den Dörfern beunruhigten die Bevölkerung Vans. Im April bot Jevded sämtliche armenischen Männer der Provinz zwischen 18 und 45 unter Androhung der Todesstrafe und der Deportation ihrer Familien zum militärischen Arbeitsdienst auf. Als er einen als Vermittler in den aufrührerischen Shatak-Distrikt entsandten ARF-Führer umbringen liess und Truppen hinschickte, um seine Drohung wahr zu machen, eskalierte die Spannung. Schliesslich verhängten die osmanischen Behörden die Teilung der Stadt. Da fiel endgültig die Entscheidung zum Widerstand. Auf diesem Hintergrund ist die organisierte „Erhebung“ der armenischen Bevölkerung Vans nichts anderes als die Verteidigung eines Ghettos gegen die türkische Militärmacht, welche ihre Wohnbezirke von Mitte April bis zum Einmarsch der Freiwilligenverbände und russischer Truppen belagerte.

Von Massakern an Tausenden begleitete Deportationen hatten in Zeytun und Adana schon im März und April 1915 eingesetzt. Die Planmässigkeit der Ereignisse, die sich zum Völkermord ausweiteten, zeichnet sich um diese Zeit schon deutlich ab und rechtfertigt die Rebellion als Akt der Selbstverteidigung. Van ist indessen - im Unterschied zu Musch oder Zeytun - eine frontnahe, strategisch wichtige Grenzstadt. Sie war daher hart umkämpft und wechselte allein vom Sommer 1915 bis Frühjahr 1916 dreimal die Besatzung. Die russische Armee kontrollierte darauf Van von 1916 bis zur Oktoberrevolution 1917. Nach dem vorübergehenden Exodus kehrten viele Armenier während dieser Zeit nach Van zurück und begannen mit dem Wiederaufbau. Dann wendete sich das Geschick endgültig.

In Van hatten Muslime und Armenier in mehrheitlich ethnisch gesonderten Quartieren und Bezirken bis zur nationalistischen Epoche friedlich zusammengelebt. Die alte Stadt am Fuss des Burgfelsens und die im 19.Jahrhundert jenseits der Mauern gewachsene „Gartenstadt“ Aygestan wurden im Lauf des Kriegs dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Krieg wurde im Gebiet der landeinwärts liegenden Gärten eine neue Stadt aufgebaut. Doch die armenische Bevölkerung der Provinz, eine bis 1915 bedeutende Minderheit, war vollständig ausgerottet oder vertrieben.


Der armenische Nationalismus und die Bildung revolutionärer Organisationen

Der aus Van stammende Priester Mkrtitsch Khrimian gilt als geistiger Vater der armenischen Befreiungs-bewegung und als patriotischer Dichter, dessen Poesie und eindringliche Appelle wesentlich zur Stiftung einer nationalen Identität der Armenier beitrug. Gemeinsam mit dem literarisch bedeutsameren Garegin Srvandztiant ist Khrimian im ausgehenden 19.Jahrhundert repräsentativ für die Renaissance einer volks-tümlichen armenischen Literatur, deren Tradition vor allem durch den Prosadichter Mowses Chorenazi im 5.Jahhundert und durch den Mystiker und Lieddichter Grigor von Narek in der Zeit des Reichs von Vaspurakan begründet worden war. Diese Dichtung, welche etwa in Zeiten der Vertreibung und Emigration elegisch die Schönheit der im Exil vermissten Bergheimat beschwor, wurde in moderner Zeit durch eine urbane Literatur aus ihrem Rang verdrängt und galt daher im 19.Jahrhundert als provinziell. Khrimian hatte noch vor Anbruch der Herrschaftsepoche Abdulhamids für vier Jahre die Stellung des armenischen Patriarchen in Konstantinopel inne. Als Dichter und politischer Wortführer engagierte er sich besonders für den Zusammenhalt der Armenier in ihrer Heimatregion, denn er hatte zur Zeit der wirtschaftlichen Krise den Exodus armenischer Migranten erlebt, die mit ihrer Hoffnung, im Westen eine neue Existenz aufbauen zu können, scheiterten und in Konstantinopel verelendeten.

1878 reiste Khrimian als Verhandlungsleiter einer armenischen Delegation an den Berliner Friedens-kongress und machte die enttäuschende Erfahrung, dass die Grossmächte dem autokratischen Sultan hofierten und die Reformwünsche der Armenier in den Wind schlugen; die armenische Delegation durfte ihr Anliegen nicht einmal der Konferenz vortragen. Khrimians Botschaft an die Armenier fasste die Erfahrung der Ohnmacht in eine berühmte Metapher. Die armenischen Abgeordneten, so schrieb er, trugen keine funkelnden Degen, sie hielten bloss ein Papier mit ihrer Petition in der Hand. Sie hatten keine eisernen Löffel bei sich wie die anderen Nationen, um sich ihren Anteil aus dem Freiheits-Eintopf zu schöpfen. Deshalb, lautete Khrimians Appell an die Armenier, hätten sie kein Gehör gefunden und müssten nun lernen, ihre Rettung selbst in die Hand zu nehmen. Die Aufforderung „ Arm yourself ! “ ist wegen Khrimians Hinweis auf die Macht von Gewehren - auf welche auch die „eisernen Löffel“ in seiner Botschaft anspielen - keineswegs metaphorisch zu verstehen. Revolutionäre Gruppen begannen sich nun vorzusehen und mit Waffen einzudecken. Auf dem Hintergrund zunehmender ethnischer Spannungen in den Neunzigerjahren, als Sultan Abdulhamid irreguläre kurdische Reiterregimenter ausrüstete, ist das Bedürfnis nach Selbstschutz verständlich.

Patriarch Khrimian kehrte zwei Jahre nach seiner Berliner Mission nach Van zurück und entfaltete zwischen 1880 und 85 vom Kloster Varag (Vagarawank) aus gemeinsam mit Srvandztiant ein nachhaltiges Wirken als Priester, Schriftsteller und Pädagoge. Er begründete die erste armenische Zeitschrift im osma-nischen Reich. Sie trug den symbolträchtigen Namen „Artsvi Vaspurakan“ („Adler von Van“). Zu dieser Zeit begannen sich infolge der Repression unter Abdulhamid in Van Geheimorganisationen zu formieren. Die zwar aus dem Geist der Epoche nicht aussergewöhnliche, aus der Optik des Ordnungsstaats aber rebellische Passion der beiden Priester zur Erweckung eines patriotischen Unabhängigkeitsbewusstseins erregte den Widerstand der konservativen Armenier Vans. Die osmanischen Behörden verschärften die Zensur und ergriffen Massnahmen zur Kontrolle des Bildungswesens. Der Unterricht in armenischer Geschichte wurde verboten, das armenische Wort „Hayastan“ - für Vaterland - wurde im ganzen Reich gebannt. Die Zahl türkischer Schulen wurde verstärkt und türkische Inspektoren visitierten armenische Schulen. Es kann nicht überraschen: Solche Methoden repressiver Politik wiederholten sich im Umgang der türkischen Republik mit dem kurdischen Nationalismus im 20. Jahrhundert. Vom Sultan wegen seiner nationalpolitischen Aktivität ins Exil geschickt, wurde Khrimian 1902 zum Katholikos der grenzübergreifenden Nation aller Armenier gewählt. Als der russische Zar 1903 den Kirchenbesitz der staatlichen Verwaltung unterstellte, rief Khrimian den Klerus in dem von Russland besetzten armenischen Trans-kaukasus zum Boykott des Edikts auf. Er starb 1907. 

Der Sinn der Aufforderung Khrimians in seiner Rede von 1878 sollte den Armeniern Vans 1896 endgültig einleuchten, als die schweren Pogrome nach einem Ueberfall daschnakischer Revolutionäre auf die Osmanische Bank von Istanbul nach Van übersprangen. Die Kämpfer hatten nach hartnäckiger Verteidigung ihrer Stadt freien Abzug und eine Amnestie für die Bevölkerung ausgehandelt, aber die Zusicherung wurde gebrochen: Quartiere Vans wurden beschossen, gebrandschatzt und zerstört, die Bewohner massakriert, die abziehenden Verteidiger verfolgt und gejagt.

Es ist kein Zufall, dass die erste armenische Partei im osmanischen Reich überhaupt, die Armenakan Kasmakerputjun oder Armenische Organisation, 1885 in Van gegründet wurde. Der Publizist und Pädagoge Mkrtitsch Portugaljan war der geistige Vater und Führer dieser  patriotisch-liberalen Partei, welche als Ziel ihrer Politik die nationale Unabhängigkeit propagierte. Ihr traten in Van zahlreiche Intellektuelle bei. Auf internationaler Basis formierten sich kurz darauf die zwei grossen revolutionären Parteien nationalisti-scher und sozialistischer Ausrichtung. Die 1907 in die Zweite Sozialistische Internationale aufgenommene Armenische Revolutionäre Foederation (ARF) gründete auch in Van eine Zentrale. 1904 trat der spätere Mitbegründer der Armenischen Republik, der aus Karabach stammende Berufsrevolutionär Aram Manuk-jan, ins Führungskollektiv der Regionalpartei ein. Die Daschnaken, wie ihre militanten Mitglieder hiessen, spielten in den spannungsgeladenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und während des Aufstandes in Van eine wichtige, wenn auch umstrittene Rolle. Die nationalrevolutionäre Hntschak, eine Partei sozial-demokratischer Ausrichtung, von der sich 1896 ein nationalliberaler Flügel abspaltete, verlor in Van auf Kosten der Daschnaken zunehmend an Einfluss. Sie wurde wie die lokal verankerte liberale Partei der Armenaken, welche in Van über eine schwindende Gefolgschaft verfügte, in die Auseinandersetzungen mit der militanten ARF hineingezogen.

Armenier bildeten in Van wie in anderen städtischen Kolonien eine wirtschaftlich erfolgreiche Elite. Inner-halb der armenischen Millet herrschte aber eine starke soziale Disparität. Die tonangebende grossbürger-liche Bevölkerungsklasse der Kaufleute, Geldwechsler, Akademiker und Grundbesitzer war konservativ. Die mehrheitlich arme Unterschicht, zu welcher Krämer, Handwerker, Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter sowie Lehrer und Vertreter des niedern Klerus zählten, war für sozialrevolutionäre Ideen eher empfänglich. Die armenischen Grossgrundbesitzer forderten von den Kleinbauern und Pächtern Natural-abgaben. Sowohl die armenischen als auch kurdischen Bauern lebten mehrheitlich in nahezu feudaler Abhängigkeit und hatten an ihre Grundherren mehr als die Hälfte des Ernteertrags abzuliefern.

Die Daschnaken propagierten den Unabhängigkeitskampf und verfolgten gleichzeitig die sozial-revolutionären Ziele ihres internationalen Programms. Sie nutzten die durch die wirtschaftliche Notlage zunehmenden sozialen Spannungen, um den Klassenkampf auszulösen. Auf dem Land konnten sie vor allem in den Gebirgsdörfern, etwa im Shatak-Distrikt, auf eine stärkere Solidarität zählen als in der Stadt. Sie kontrollierten den Waffenschmuggel und legten, wie schon erwähnt, im Untergrund agierend Waffenlager an. Im Machtkampf um die regionale Führungsrolle griffen sie innerhalb der armenischen Millet auch mit Gewalt durch. Dabei scheuten sie bisweilen auch nicht terroristische Mittel wie Mord-drohung oder die Ermordung politischer Gegner. Allerdings sind solche Vorkommnisse kaum zweifelsfrei zu belegen, da einerseits die osmanische Justizbehörde, welcher die innerarmenische Auseinander-setzung nicht unwillkommen war, oft nur formelle Untersuchungen durchführte, andererseits der Druck des ethnischen Konflikts immer wieder die Solidarität der armenischen Millet im nationalen Verteidigungskampf erzwang. Parteifehden, Terror und andere Auswüchse der Machtpolitik traten unter der schweren Herausforderung während des Kriegs zurück. Es ist verständlich, dass die Erinnerung an die Machtkämpfe vor der traumatisierenden nationalen Katastrophe von 1915/16 unter den Exilarmeniern später, nach der Gründung der Sowjet-Republik, aus psychologischen und politischen Gründen verdrängt wurde. 


Die Frage des innerarmenischen Terrors in der Provinz Van an drei Beispielen
und kritische Fragen zu ihrer Auslegung in einer türkischen Publikation

Die türkische Geschichtsdarstellung macht die Daschnaken für den Zustand der Gesetzlosigkeit in den Ostprovinzen Anatoliens verantwortlich und beschuldigt sie des Terrors gegen eine mehrheitlich gemässigte und loyale armenische Bevölkerung. Im Zusammenhang dieser Argumentation hat die Ermordung zweier hoher armenischer Staatsbeamter in der Provinz Van ein besonderes Gewicht.

Ein kontroverser Todesfall hat heftige Diskussionen ausgelöst. 1907 starb in Van der Schulgründer und einflussreiche Armenake Grigor Ajeman. Unter den Armeniern sind die Hintergründe seines Todes bis heute umstritten. Ob es sich um einen Schiessunfall oder einen als Unfall getarnten politischen Mord handelt, blieb damals unaufgeklärt. Ueberliefert ist jedoch, dass die Daschnaken nach seinem Tod die Leitung fast aller Schulen in Van übernahmen. Als eines der möglichen Motive für einen Auftragsmord durch die Partei wird eine Auseinandersetzung zwischen dem armenakischen Schulleiter und der anarchistischen Studentenbewegung Nor Serund erinnert. Der Autor Gürgen Mahari erzählt später den Tod seines Vaters im historisch-autobiographischen Roman „The Burning Orchards“, indem er die undurchsichtigen Umstände als Alptraum eines fünfjährigen Kindes verhüllt: Sein Onkel, der ein Dasch-nake ist, spielt mit einem Gewehr; als sich der tödliche Schuss löst, geht das Licht aus.

Der Provinzgouverneur Ali Riza Pasha, der für eine kurze Amtszeit 1907-08 in Van residierte, ernannte den armenischen Notablen Ohannes Ferit Boyakjan, welcher dieses Amt seit 1896 innehatte, zu seinem Vizegouverneur. Dessen Bruder Annarak Boyakjan wurde zur gleichen Zeit als Gouverneur des Distrikts Gevas eingesetzt, zu welchem der Katholikossitz auf der Insel Ahtamar gehörte. Die Ermordung des Distriktgouverneurs Annarak Boyakjan erscheint wenig später als ein Schlag gegen die brüchige Allianz zwischen der Regierung und den konservativen Kräften der armenischen Gemeinde. Sie stürzte Van erneut in eine politische Krise.

Eine aktuelle historische Publikation der Geschichtsfakultät der Universität Van von Hasan Oktay (in: „Armenian Allegations: Myth and Reality“), welche die Hintergründe der innerarmenischen Auseinander-setzungen analysiert, bezichtigt - in Uebereinstimmung mit der offiziellen türkischen Geschichtsthese - die daschnakischen Separatisten des Attentats. Sie ist jedoch nicht in der Lage, den konkreten Tatnachweis zu erbringen und eine Täterschaft zweifelsfrei zu benennen. Auf den ersten Blick scheint die Begründung für die Ermordung spekulativ: Das Komitee der Daschnaken habe, so heisst es, mit dem regierungsloyalen Annarak Boyakjan ein Hindernis seiner Politik beseitigen wollen, welche darauf zielte, am ehemaligen Katholikossitz von Ahtamar eine politische Basis aufzubauen, um auf die dortige Priesterschule und die armenische Bevölkerung einen verstärkten Einfluss ausüben zu können. Der deutsche Botschafter Wangenheim erwähnt in einem Bericht von 1914 an den Reichskanzler Bethmann-Hollweg im Zusammenhang mit dem daschnakischen Terrorismus die Unruhen des Jahres 1907 auf der Insel Ahtamar. Die Tatsache, dass die Daschnaken nach dem ungeklärten Tod des Schulgründers Grigor Ajeman in Van ihren Einfluss auf das Schulwesen entscheidend ausbauten, verbindet zwar den Fall Annarak Boyakjan mit den Zielsetzungen der Politik des revolutionären Komitees zur selben Zeit und die erwähnten Unruhen um die Klosterschule könnten die These eines Zusammenhangs stützen. Eine schlüssige Beweisführung im Mordfall Boyakian ist jedoch mit diesen Hinweisen und Konjekturen ebenso wenig erbracht wie im Fall des Schulgründers Ajeman.

Um die dramatische Entwicklung in der unruhigen Zeit kurz vor der jungtürkischen Revolution zu veran-schaulichen, sei an dieser Stelle der folgenreiche Fall Davo erwähnt: Anfang 1908 verriet ein abtrünniger Kollaborateur Aram Manukjans die von der ARF angelegten Waffenlager. Der Verrat löste gewaltsame Raids aus. Zahlreiche Verdächtige wurden durch die osmanische Polizei verhaftet und gefoltert. Die im Untergrund agierende Partei überstand die Krise. Als nach der Machtübernahme der Jungtürken im Juli 1908 die Verfassung wieder in Kraft gesetzt wurde, formierten die Daschnaken sich öffentlich, gingen in der Stimmung eines allgemeinen Reformoptimismus mit den Unionisten vom jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt eine pragmatische Wahlallianz ein und stellten zehn von 50 christlichen Abgeordneten im osmanischen Parlament. Die Kurden verhielten sich im Unterschied zu den Armeniern zur Zeit des Putsches konservativ und sultantreu. Die politische Wende wirkte sich zunächst für die Armenier günstig aus, die von den Daschnaken vorangetriebene Politik schien sich auch in Van aus-zuzahlen. Doch der Frühling der jungtürkischen Revolution war für die auflebenden armenischen Hoffnungen von kurzer Dauer. Die Massaker an den Armeniern in Kilikien im März und April 1909 riefen das alte Misstrauen wieder wach.  

In Van erschütterte im Dezember 1912 ein dritter Mord das mühsam austarierte Gleichgewicht der armenisch-osmanischen Beziehung. Der von der Bevölkerung gewählte Bürgermeister der Stadt, Bedros Kapamakjan, wurde laut der erwähnten Untersuchung der Universität Van (s.o.) beim Aufbruch zu einer Feier vor seinem Haus durch eine Gewehrsalve mehrerer daschnakischer Attentäter tödlich getroffen. Bürgermeister Kapamakjan genoss als Textilhändler und Mitglied der Handelskammer von Van hohes Ansehen. Wenn seine Wahl durch den Gouverneur bestätigt worden war, so gab es an seiner Loyalität keine Zweifel. Im April 1912 war es zu einer Serie von Brandanschlägen in Van gekommen, denen offenbar „auch“ armenische Häuser zum Opfer fielen. Kapamakjan soll gegenüber der Regierung der Anklage durch den armenischen Patriarchen und in der Region umlaufenden Gerüchten widersprochen haben, dass es sich bei den Bränden um muslimische Anschläge gegen armenischen Besitz gehandelt habe. Er beschuldigte in seinem Bericht das Daschnaken-Komitee der Brandstiftung. Dieser Umstand gilt als mögliches Motiv für eine daschnakische Beteiligung an der Ermordung des Bürgermeisters. Die historische Darstellung gibt allerdings Anlass zu begründeten Zweifeln an der Identifikation der Attentäter. Sie sollen in der Dunkelheit verschwunden sein; unter der Menge der anwesenden Tatzeugen konnte offenbar niemand einen von ihnen mit Sicherheit identifizieren. Der Sohn des Opfers, der parteilose Kaufmann Set Kapamakjan,  bezeichnete ein Komiteemitglied als möglichen Täter und die folgende Verhaftungswelle erfasste eine Anzahl von Tatverdächtigen oder Hintermännern aus dem Umkreis der Daschnaken.

In der Publikation der Universität Van wird die Tatsache eingestanden, dass bei den sich häufenden Anschlägen jener Zeit, zu denen wohl auch die Ermordung Annarak Boyakjans zählt, trotz zweifellos bedeutender Polizeipräsenz in der Provinz, nur wenige Verhaftungen erfolgten und viele Fälle unaufgeklärt blieben. Man könnte aus dieser Tatsache die Schlussfolgerung ziehen, dass die osmanische Justiz kein Interesse an der Aufklärung hatte, da sich die Uebergriffe ja hauptsächlich gegen Armenier richteten. Sie liesse sich als ein denkbarer Beleg für den von den Armeniern beklagten Mangel an Rechtsschutz oder die herrschende Gesetzlosigkeit interpretieren. Der Umstand, dass keine polizeilichen Massnahmen zum Schutz des offenbar bedrohten Bürgermeisters getroffen worden waren, wird selbst in der Untersuchung als suspekt bezeichnet, aber wohl deshalb nicht weiter erörtert, weil die Polizei ja im Mordfall des Bürgermeisters - im Unterschied zu früheren Attentaten - angeblich mit Erfolg durchgriff. Dass man nach der Ermordung Kapamakjans rasch eine Reihe mutmasslicher Täter verhaftete, begründet der Verfasser mit der besonderen politischen Sensibilität des Falls: Die Verhaftung der armenischen Täterschaft habe glücklicherweise das Aufflammen ethnischer Spannungen verhindert. Zweifellos hat sie auch die Spaltung der armenischen Gemeinde vertieft, von welcher die Argumentation der Publikation ausgeht!

Die während der Beerdigung des Bürgermeisters anwesenden Geheimdienstleute sollen beobachtet haben, dass kein Mitglied des revolutionären Komitees der Feierlichkeit beiwohnte. Die Behörden sollen diese Tatsache als Indiz für die Schuld der Daschnaken ausgelegt und den Schluss gezogen haben, das Komitee habe durch die Abwesenheit seine Warnung an die armenischen Gegner bekräftigen wollen. Dieses Argument ist zwar auf den ersten Blick einleuchtend, schliesst aber ein anderes Motiv nicht aus. Wenn man bedenkt, dass die Sicherheitsbehörde sofort mit Verhaftungen gegen die Organisation bis in die Führungsebene durchgriff und ein Interesse daran zeigte, dass die Oeffentlichkeit von der Schuld der daschnakischen Verschwörer überzeugt war, dann erscheint deren Verzicht auf die Teilnahme wegen der angespannten Lage verständlich.

Anstössig ist die verharmlosende und beschönigende Tendenz am Schluss der Publikation: Als die türkischen Moslems nach dem endgültigen Rückzug der Russen aus Van zur Zeit der Oktoberrevolution vom Februar 1917 in die Stadt zurückkehrten, sollen sie mit Bestürzung erfahren haben, dass ihre armenischen „Freunde und Nachbarn“ (sic!) Van bedauerlicherweise verlassen hatten. Die Tatsache, dass keine Armenier mehr in Van lebten, ist der verzerrenden Geschichtsversion gemäss allein die Folge des organisierten Terrors der Daschnaken. Diese hätten die russische Besetzung von langer Hand vorbereitet und beim Vorrücken der russischen Armee im April 1915 gewaltsam den armenischen Aufruhr entfacht. Der Schluss weckt Konsternation, denn er lässt den Leser mit der Frage zurück, weshalb die loyalen Armenier, welche gemäss den erwähnten  Geheimdienstberichten vor dem Krieg noch deutlich ihren Unmut gegenüber den radikalen Komitees und ihren Umtrieben bekundet haben sollen, sich dem Aufstand nicht widersetzten. Weshalb verliessen sie Van am 31.Juni 1915 mit den abziehenden russischen Truppen? Und warum kehrten sie nach deren endgültigem Rückzug 1917 nicht in ihre Heimat zurück, wenn sie ja - wie die Verfasser uns glauben lassen - erwarten konnten, dass ihre ehemaligen musli-mischen Nachbarn sie versöhnlich aufgenommen hätten. Die banale Argumentation der Publikation von Van überspielt sowohl die komplizierte Kausalkette der Ereignisse als auch den nachfolgenden Holocaust der Deportationen und verfehlt dadurch auf befremdende Weise ihr Ziel.

Wenn die Darstellung der Hintergründe des Attentats gegen den Bürgermeister von Van die verhafteten Personen mit den Tätern identifiziert, so müsste sie, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, die kriminalgerichtlichen Tatbeweise analysieren. Da sie es aber unterlässt, Untersuchungsberichte oder Verhörprotokolle zu zitieren, baut sie dem Verdacht nicht vor, dass die gerichtlichen Dokumente keine begründeten Schlüsse in Bezug auf die Täterschaft zulassen, wenn nicht sogar Gründe enthalten, die Methoden und Ergebnisse des gerichtlichen Verfahrens in Frage zu stellen. Eine radikale armenische Täterschaft ist nicht auszuschliessen, jedoch ist ein dokumentarisch begründeter Nachweis der These erforderlich, dass die Täterschaft in den beiden Mordfällen Boyakjan und Kapamakjan dem Umkreis des revolutionären armenischen Komitees entstammt. Falls der konkrete Nachweis nicht erbracht werden kann, so bleibt die Schuldfrage offen und muss einer öffentlich-historischen Debatte überlassen werden, was voraussetzt, dass sämtliche verfügbaren Dokumente zugänglich sind.

Die Darstellung der Universität Van hat durchwegs eine zweifelhafte Tendenz, das Verhältnis zwischen der muslimischen und einer aus ihrer Sicht mehrheitlich loyalen armenischen Bevölkerung Vans und seiner Region zu idealisieren. Nicht Konkurrenz, sondern durch Toleranz in der osmanischen Tradition geprägte Koexistenz soll das politische und wirtschaftliche Zusammenleben offenbar auch nach den schweren Pogromen von 1895/96 gestaltet haben. Die Argumentation ist auf die Generallinie türkischer Rechtferti-gungsversuche abgestimmt: Für alle Konflikte seit dem Berliner Kongress und für die Eskalation, welche während des Ersten Weltkriegs die Deportationen notwendig gemacht haben soll, werden undifferenziert und einseitig die Demagogie der revolutionären Priester, die Radikalisierung der armenischen National-versammlung und die durch Russland unterstützten Umtriebe der revolutionären armenischen Komitees verantwortlich gemacht. Unglaubwürdig ist die Publikation der Universität Van - wie andere an der Front der Rechtfertigungskampagne - vor allem deshalb, weil sie entscheidende Tatsachen durchwegs unterschlägt oder verharmlost. Vor allem: den Terror der Einheiten und Banden der Teskilat, die Liqui-dation armenischer Arbeitsbrigaden und die Durchführung sowie die Dimension der Deportationen, welche Mitte 1915 nicht nur die armenische Bevölkerung der umkämpften und unsicheren östlichen Grenz-regionen, sondern - mit Ausnahme Istanbuls und Izmirs - nach einem zunehmend erkennbaren Programm das ganze nicht russisch besetzte Staatsgebiet der zukünftigen Türkei erfassten. 

Die Hauptschwäche der türkischen Rechtfertigungsthese liegt in ihrer Einseitigkeit. Erklärungsbedürftig ist, wie in Van noch vor dem Ersten Weltkrieg eine revolutionäre Organisation - die daschnakische ARF - trotz massiver Präsenz osmanischer Sicherheitskräfte (insbesondere des Geheimdienstes) nicht nur die armenische Bevölkerung, welche den Daschnaken gegenüber mehrheitlich keine Solidarität empfunden und sich ihren terroristischen Methoden widersetzt haben soll, sondern auch die grosse Mehrheit der moslemischen Bevölkerung terrorisieren konnte. Erklärungsbedürftig ist weiter: Weshalb revolutionäre Elemente sich angeblich trotz der vorausgesetzten Loyalität einer Mehrheit der Armenier gegenüber der osmanischen Regierung dem Zugriff der Sicherheitsdienste in den meisten Fällen terroristischer Aktionen entziehen konnten. Selbst wenn man die Schwierigkeit anerkennt, die Aktivität einer im Untergrund operierenden terroristischen Organisation einzugrenzen, und davon ausgeht, dass die Daschnaken auf Rückhalt unter der dörflichen Bevölkerung einzelner Regionen bauen konnten, bleibt ein Argumentations-defizit bestehen.

Und  g r u n d s ä t z l i c h  drängt sich die  F r a g e  auf:  Was bezweckt und erbringt letztlich der angestrebte Nachweis eines die Millet zersetzenden Terrors radikaler armenischer Gruppen im Zusam-menhang mit dem Hauptproblem: dem Ausmass und der unbestreitbar geplanten fatalen Konsequenz der Deportationen von 1915/16? 


Ahtamar als „Zentrale“ einer armenischen Verschwörung und das Konzept türkischer Rechtfertigung

Eine Publikation der Kafkas-Universität in Kars von Azmi Süslü und anderen Autoren („Armenians in the history of Turks“, Ankara1995) greift auf die Bevölkerungsstatistik des Innenministeriums von 1914 für die Provinz Van und ihre Distrikte zurück. Die Gegenüberstellung eines türkischen bzw. muslimischen und eines armenischen Bevölkerungsteils stellt an sich eine grobe Simplifizierung dar. Wenn wir uns auf die vorliegenden türkischen Angaben verlassen (armenische Statistiken, welche völlig andere Proportionen ergeben, sind nicht zuverlässiger), dann umfasste der armenische Bevölkerungsteil der Provinz wenig mehr als einen Viertel der Gesamtbevölkerung. Einzig in zwei Distrikten ist die armenische Minderheit grösser als ein Drittel des Totals, nämlich im Stadtdistrikt Van (33,8 von 79,7 Tausend) und in Gevas (10,5 von 28,6 Tausend). Die Statistik soll die Behauptung der armenischen Seite widerlegen, dass der Anteil der armenischen Bevölkerung insgesamt und vor allem im Zentrum eine Mehrheit gebildet habe, was in der Tat kaum zutrifft. Die aufgeführten Zahlen sind fragwürdig auf alle Fälle mit Vorsicht zu registrieren.

Die Untersuchung der Kafkas-Universität macht Van zu einer Basis organisierter Propaganda und Ver-schwörung der Armenier und ihrer europäischen Alliierten, welche in Konsulaten, Missionsstationen oder Handelsniederlassungen der Stadt vertreten waren. Die revolutionären armenischen Komitees hätten gemäss der Darstellung sowohl die armenischen Kirchen und Schulen Vans und der Region als auch die fremden Vertretungen und Gesellschaften für ihre verbrecherischen Aktivitäten missbraucht. Das Komitee der Daschnaken habe insbesondere die Priesterschule auf der Insel Ahtamar „sofort“ usurpiert und das Kloster zum revolutionären Operationszentrum der Organisation ausgebaut. Von hier aus seien „alle blutigen Ausschreitungen“ in der Region dirigiert worden. So hätten Armenier zum Beispiel im Februar 1915 in der Region Timar während der Schafzählung die osmanischen Beamten bewaffnet angegriffen. Im Lauf der Ausschreitungen seien - die Angabe dient offenbar zum Beweis der Dimension des Aufstands - mehr als tausend Briganten verhaftet worden. Bei anderen Angriffen hätten sich die Insurgenten der Verhaftung zum Beispiel durch Flucht auf dem See oder ins Gebirge entzogen.

Die inhaltlich äusserst selektive, im propagandistischen Wortgebrauch aber nicht wählerische Darstellung unterschlägt jeden Hinweis auf Massnahmen organisierter Gewalt von Seiten der osmanischen Behörden und Truppenverbände. Erwähnt werden nur „armenische Massaker“ an der muslimischen Bevölkerung - zum Beispiel am 12.April in den Distrikten Gevas und Shatak -, nicht aber die Raids osmanischer Truppen, die gewaltsamen Requisitionen und Plünderungen, die kurdischen Racheakte etwa im Raum Dogubayazit-Eleskirt im Winter 1914/15 und besonders die dem „armenischen Aufstand“ vorausgegangene Liquidation der für Strassenbau und Transporte zwangsrekrutierten männlichen Dorfbewohner und entwaffneten Soldaten.

Hinter dieser selektiven Optik erscheint ein umfassendes Konzept zur Rechtfertigung der Deportationen. Die Aufstände des Ersten Weltkriegs reihen sich in der türkischen Theorie nahtlos an die Serie der undifferenziert aufgelisteten armenischen „Rebellionen“ des 19. und frühen 20.Jahrhunderts an. Zur Abwehr der Völkermord-Anklage konstruiert die türkische Verteidigungsstrategie die Gegenthese eines von den revolutionären armenischen Organisationen - vor allem den Daschnaken - unter der Mitwirkung kirchlicher Einflussträger von langer Hand geplanten und während des Kriegs etwa in Zeytun, Bitlis, Kayseri, Van, Musch oder Diyarbakir in grossem Umfang eingeleiteten Genozids an der islamischen Bevölkerung. Sie beschuldigt die armenischen Rebellen, im Hinterland der osmanischen Heeresfront einen Krieg der verbrannten Erde in Gang gesetzt zu haben, welcher auch gegen die loyalen Teile der armenischen Bevölkerung gerichtet war und rücksichtslos die Machtübernahme durch die revolutionären Kader vorbereiten sollte. Die Reaktion der osmanischen Sicherheitskräfte ist ausschliesslich als Schutzvorkehrung gegen die staatsbedrohende, von den alliierten Mächten unterstützte armenische Rebellion zu verstehen.

Dass armenische Aktivisten eine fünfte Kolonne im Hinterland der Front bildeten, ist eine Tatsache, mit welcher die osmanische Heeresleitung zu rechnen hatte. Sabotage und Desertion gehören zur Alltags-realität des Kriegs; jede kriegsführende Macht, auch die russische, hatte sich mit Widerstand auseinanderzusetzen. In der linearen Logik der türkischen Darstellung erscheinen armenische Sabotageakte und Ueberfälle als Konsequenz und Beweis einer umfassenden revolutionären Strategie der Daschnaken, welche die Führung der Armenier an sich gerissen hätten. Dass es nach der Ankunft der russischen Truppen am 19.Mai in Van oder während dem Vormarsch der russischen und der freiwilligen armenischen Verbände im Juni/Juli 1915 etwa in der Provinz Musch und Bitlis unter Führung daschna-kischer Kader-Revolutionäre zu bedauerlichen Vergeltungsakten an der muslimischen Bevölkerung kam, welche den Charakter zweckpolitischer Ausmerzaktionen kaum verleugnen, ist unbestritten. Offenkundig wird in der türkischen Publikation aber die Tatsache ausgeblendet, dass die osmanische Militär- und Polizeimacht über genügend Kräfte verfügte, um im April - vor dem Einmarsch der russischen Armee - in der Provinz Van die „Rebellion“ abzuschnüren und durch Terror niederzuhalten oder im Mai/Juni in Musch schwerste Massaker an der armenischen Bevölkerung anzurichten. Ende Juli warf die osmanische Armee die armenischen Freischaren südlich und die russischen Truppen nordöstlich des Vansees zurück und erzwang Anfang August den überstürzten russischen Abzug aus Van. Bei der Durchführung der Zwangsmassnahmen zur Deportation, welche schon im Mai in vollem Umfang anlief und die Gegenwehr der Armenier rechtfertigt, war die Uebermacht der osmanischen „Ordnungskräfte“ erdrückend. 

Eine neue Publikation des Center for Strategic Research (“Armenian Claims and Historical Facts”, Ankara 2005) räumt die Widersprüche nicht aus. Zitate britischer und russischer Repräsentanten im Osmanischen Reich sollen belegen, dass die Daschnaken und Hntschaken planmässig Zwietracht sowohl unter den Armeniern als auch zwischen Armeniern und Moslems anfachten. Diese hätten das Ziel verfolgt, beklagt die Publikation, die Intervention der Grossmächte zugunsten der christlichen Minderheit auszulösen. Da die Osmanische Regierung Provokationen selbstverständlich nicht hinnehmen konnte, sondern die durch Rebellion bedrohte Ordnung durch Truppenaufgebote herstellen musste, habe die verantwortungslose armenische Propaganda ein leichtes Spiel gehabt, in Verkehrung von Ursache und Wirkung das Osmanische Reich als Terrorherrschaft zu diskreditieren.

Die Paradoxie solcher Argumentation erscheint in einer zentralen Passage besonders krass: Die osmanische Ordnungsmacht habe, wie es heisst, gegen die Aufständischen und Terrorbanden rasche Erfolge erzielt, weil die Mehrheit der armenischen Bevölkerung entweder neutral oder regierungsloyal gewesen sei. Allein die Wirkung der Propaganda revolutionärer Komitees und christlicher Missionare habe unter den christlichen Mächten die Stimmung so sehr zugunsten der armenischen Nation beeinflusst, dass die Ordnung unterwandert und das Bestreben der Regierung Reformen durchzuführen vereitelt worden sei. Das Argument, die europäischen Mächte hätten sich durch das 1878 - bei den Verhandlungen um den Teilrückzug Russlands - ausbedingte Kontrollrecht ein Mittel zur Einmischung in die osmanische Politik geschaffen und die Armenier für ihre Interessenpolitik benützt, ist so nicht haltbar. Es überspielt die Tatsache, dass die Interessen der Mächte deutlich divergierten. Und es zieht nicht in Betracht, dass das Osmanische Reich sich zur Zeit des Imperialismus durch enge wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich einer starken europäischen Macht angeschlossen hatte. Die siegreichen alliierten Mächte können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass diese Partnerschaft die fatale militärische Allianz des Ersten Weltkriegs begründete.

Noch 1913 skizzierte der deutsche Botschafter Wangenheim seiner Regierung mit durchaus realpolitischer Zielsetzung einen Katalog von Reform-Massnahmen, um den Einfluss Russlands zu brechen und die akut gewordene armenische Frage zu lösen. Die Mission der europäischen General-Inspektoren Hoff und Westenenk, welche die Durchführung der Reformen in Uebereinkunft mit der osmanischen Regierung überwachen sollten, scheiterte 1914. Der Norweger Hoff wurde von der osmanischen Regierung, welche kein Interesse an fremder Beaufsichtigung zeigte, im August aus Van zurückbeordert. Die deutsche Regierung ihrerseits setzte nach Kriegsausbruch alles daran, das Bündnis nicht zu gefährden, und hielt sich in der Armenierfrage aus taktischen Gründen zurück. Deutschland trägt vor allem insofern eine Mitverantwortung am Völkermord, als ein Teil seiner Militärberater in den Aktionen gegen die armenische Bevölkerung direkt involviert war und die deutsche Führung alles daran setzte, die alarmierenden Vorgänge aus Rücksicht auf die Kriegsallianz mit der Türkei und die militärischen Zielsetzungen geheimzuhalten.






Fragen zu Spuren und zerstörten Zeugnissen armenischer Kultur

Unter dem mächtigen Burgfels an der Küste Vans erstreckt sich ein höckeriges, von zahllosen Trichtern durchsetztes Gelände, welches ein Labyrinth von Fusspfaden überzieht. Der karge Bewuchs bietet kleineren Schafherden spärliche Nahrung. Nur wenige Mauerreste und Ruinen erkennbarer Gebäude sind auf dem Areal zerstreut. Zwei zur Hälfte abgebrochene Rundtürme, ehemalige Minarette, überragen das Gebiet der zerstörten Altstadt von Van. An seinem Rand stehen noch - als einsame Mausoleen - zwei alte Moscheen. Die von kurdischen und türkischen Moslems, Armeniern und kleineren Minderheiten bewohnte Stadt, in der sich neben der osmanischen Verwaltung ausländische Konsulate sowie Handels- und Missions-Niederlassungen befanden, umfasste Anfang des 20.Jahrhunderts ein wesentlich grösseres Gebiet. Jenseits der alten Mauertore erstreckte sich landeinwärts die Neustadt Aygestan, eine ausgedehnte Hofsiedlung mit einem stattlichen Zentrum, einem Boulevard und Marktplätzen.

Im Lauf des wechselvollen Kriegs wurde die gesamte damalige Stadt Van weitgehend zerstört. Was sich in der Stadt im Einzelnen abspielte ist, da spärlich dokumentiert, weitgehend nur aufgrund von Augenzeugenberichten nachzuzeichnen. Am 5.April 1915 trennten die türkischen Truppen die Verbindung zwischen der armenischen Bevölkerung der Altstadt und Aygestans. Kurz nachdem der als brutal berüchtigte Gouverneur Jevdet Bey die männlichen Armenier zwischen 18 und 45 zur Rekrutierung aufgerufen hatte, fiel die Entscheidung. Selbstverteidigungs-Komitees aus der ganzen Bevölkerung organisierten den Widerstand. Jevdet Beys Truppen nahmen die armenischen Quartiere mit Krupp-Kanonen unter Beschuss. Die Behauptung, die Armenier hätten nach der russischen Besetzung im Mai 1915 und dem vorübergehenden Abzug der islamischen Bevölkerung die osmanische Altstadt geschleift, ist in ihrer Einseitigkeit nicht haltbar. Die massiven Zerstörungen sind grossenteils auf die Bombardemente durch türkische oder russische Artillerie im wechselvollen Verlauf der Kämpfe um Van zurückzuführen. Als die türkische Armee sich nach dem russischen Einmarsch zurückzog und die Muslime der Stadt evakuierte, sprengten die Verteidiger allerdings die muslimischen Quartiere, in welchen sie während schweren Kämpfen Position bezogen hatten. Die Regierungsgebäude am Serail-Tor waren schon während der Belagerung von armenischen Stosstrupps mit Benzin in Brand gesteckt worden.

Für den Film „Ararat“ des armenischen Regisseurs Aram Egoyan, der selbstverständlich nicht in der Türkei gedreht werden konnte, wurde in passendem Umfeld für die Darstellung der dramatischen Aus-einandersetzungen von 1915 eine Kulisse der Altstadt und der Ruinen umkämpfter Zonen rekonstruiert.

In der Region um Van bezeugen Ruinen von Monumenten, Grabsteine und Siedlungsspuren die armenische Vergangenheit. Die Vorgeschichte der „Erhebung“ und der Ablauf der Auseinandersetzungen in der Provinz - der Raids zwischen kurdischen und armenischen Dörfern oder der militärischen Operationen - sind weitgehend bloss aufgrund von mündlichen Zeugnissen nachzuzeichnen. Ruinen, Spuren und besonders die armenischen Geheimzeichen - Kreuze, Pfeile, geometrische Figuren - sind über die Landschaft der Region, über das gebirgige Hinterland, über Caldiran sowie das gesamte Araratgebiet ausgesät. Unverhofft entdeckt man sogar auf hohen Berggipfeln - zum Beispiel unter einer von den USA und der Türkei errichteten Radaranlage an der iranischen Grenze - in den vulkanischen Fels eingravierte armenische Geheimzeichen. Völlig verloren in der weglosen Wüste der Lavaströme am Fuss des Ararat wölbt sich über einem im Sommer ausgetrockneten Bachbett das Kunstwerk einer armenischen Brücke. Der Bogen ist aus exakt behauenen Steinen gefügt. Der Wechsel sandfarbener und dunkelbrauner Bausteine ergibt ein reizvolles Muster. Welche verschollenen Dörfer verband der schwarz gepflästerte, heute abbrechende Weg mit der Grenz- und Marktstadt Dogubayazit? Die Spuren armenischer Vergangenheit in der Weite der ostanatolischen Gebirgslandschaft sind nicht auszutilgen. Doch auf der Landkarte sind nach der Gründung der Republik die geographischen Namen Armeniens durch eine nachträgliche ethno-sprachliche Säuberung ausgelöscht, in bürokratischer Stille systematisch türkisiert worden.

Yesilsu liegt an der Küste hinter dem Gören Dagi, der nördlich von Van die ausgedehnte Halbinsel Timar bildet. Auf dem Pass hinter einer gewaltigen Küstenklippe stehen auf der Schafweide zerstreut armenische Grabsteine. Sie sind roh behauen und mit eingemeisselten Ankerkreuzen und verwitterten Schriftzeichen versehen. Die meisten sind in Schieflage aller Richtungen eingesunken, manche in kraterartige Gruben kurdischer Schatzsucher hineingestürzt. Auch hier entdeckt man im grossen Umkreis rätselhafte Zeichen und Felsnischen. Rittlings auf einem Sattel der zyklopisch zerklüfteten Klippe sitzen die Mauern einer Burg, welche man nur über eine schwindelnde Felstreppe ersteigen kann. In einer schwer zugänglichen Bucht am See stösst man auf den Ausgang eines durch durch Gestein und Geröllschutt getriebenen, heute verschütteten Geheimgangs. An der Bergflanke über der Küste finden sich noch verwitterte Ruinen eines grossen Gehöfts. Was ist im Umkreis des Dorfs mit dem türkischen Namen Yesilsu oder Grünes Wasser, welches etwa 40 Kilometer von Van entfernt, abgeschieden an der Küste liegt, damals passiert? Mit grossem Aufwand unternimmt die Archäologische Fakultät der Universität Istanbul nicht weit von hier - an der Südküste der Halbinsel - Ausgrabungen auf dem Hügel einer urartäischen Burganlage. Falls die Archäologie das Gelände bei Yesilsu je sondiert hat, dann hat sie es unterlassen, Grabsteine, Mauern und Fundobjekte zu sichern. Dass die Ruine auf dem Felssattel den Armeniern 1915, vielleicht auch schon 1896, als Fluchtburg diente, ist in keinem der archäologischen Jahresbulletins verzeichnet, welche regelmässig urartäische, römische oder hethitische Ausgrabungen dokumentieren.

Amiuk, ursprünglich eine arabische Festung auf der Halbinsel Timar, fiel im 10.Jahrhundert nach zweimaliger Belagerung dem armenischen König Gagik in die Hand. Im 11.Jahrhundert war sie eine der sieben Küstenbefestigungen des Reichs von Vaspurakan rund um den Vansee. Timar erlebte ein starkes Bevölkerungswachstum und hatte 1914 einen ebenso bedeutenden armenischen wie muslimischen Bevölkerungsanteil. 2500 Familien oder 15 000 Armenier lebten in der Region vorwiegend von Ackerbau und Schafzucht. Timar war ähnlich wie Shatak ein unruhiger Distrikt. Waffenlager und Anschläge auf Telegraphenleitungen provozierten die osmanischen Behörden. Es gab 1914/15 häufig Zusammenstösse zwischen Gendarma-Einheiten oder Banden und armenischen Selbstverteidigungs-Gruppen. Am 19.April 1915, einen Tag vor dem „Aufstand“ in Van, sandte Jevdet Bey Gendarmerie-Einheiten der Teskilat auf die Halbinsel, um eine ethnische Säuberung durchzuführen. Offensichtlich waren die bewaffneten lokalen Gruppen nicht schlagkräftig organisiert und ausgerüstet, um sich dem massiven Raid wirksam zu widersetzen. Nur vier der dreissig armenischen Dörfer leisteten Widerstand. Ein Beispiel ist Janik: 73 Männer wurden zusammengetrieben und sofort getötet, die übrigen von den 700 Einwohnern versuchten die Boote zu erreichen, um auf der kleinen Insel Lim, nördlich der Küste von Yesilsu, Schutz vor dem Massaker zu finden. Aber die Armee hatte den Fluchtweg auf den See durch einen Schiffs-Kordon blockiert. Das Dorf Marmed schickte seine bewaffneten Männer in die Berge und hisste die ottomanische Flagge. Der Bürgermeister wurde darauf zusammen mit etwa hundert Männern in der Kirche niedergemetzelt. Man muss sich vorstellen, dass der bewaffnete Widerstand der Armenier auf dem Burgfelsen ähnlich wie auf Varag andauerte, nachdem die „Erhebung“ von Van begonnen hatte. 

Das ehrwürdige Kloster Varag, 20 Kilometer südöstlich von Van, im 10.Jahrhundert gegründet, war noch 1911 samt seiner Bibliothek unversehrt erhalten und bewohnt. Es bot vielen Vertriebenen Zuflucht und die topographischen Verhältnisse begünstigten 1915 seine Verteidigung. Jevded Bey konzentrierte seine militärischen Kräfte auf Varag, um das aufständische Van zu isolieren, denn das Kloster war ein geistiges Zentrum des armenischen Nationalgefühls und zugleich ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Gebirge mit wichtigen Verbindungen der Stadt ins Hinterland. Am 8.Mai wurde Vagaravank nach seiner Einnahme durch türkische Truppen gesprengt. Das Bartholomäuskloster bei Baskale an der Passverbindung nach Hakkari, einst ein armenisches Wallfahrtszentrum südöstlich von Van, wurde ebenfalls gesprengt. Zweifel-los wollte man für alle Zukunft die Verbindung historischer Erinnerung mit bedeutenden Andachtsorten verhindern.

Die Kirche Surb Sargis, dem Heiligen Sergios geweiht, gehörte zu den fünf Kirchen des Klosters Khtsgonk (Chetskonk). Ihre Ruine steht auf einem schwer zugänglichen Felssporn in der Tiefe des Canyons von Digor (armenisch: Tekor), etwa 45 Kilometer südöstlich von Kars. Das bedeutende Kloster stand bis zur Rückeroberung von Kars 1920 unter russischer Herrschaft. Die grösste der Kirchen widerstand als einziges Bauwerk mit zerrissenen Mauern der Sprengung des Klosters durch die türkische Armee um 1955. Diese späte, nicht vollständig geglückte Austilgungsaktion zerstörte eines der grossartigsten armenischen Baudenkmäler in der bizarren Canyonlandschaft zwischen Tuzluca und Kars/Ani, unmittelbar an der Militärgrenze zur Armenischen Republik, welche als ein anachronistisches Stück des Eisernen Vorhangs bis heute den Kalten Krieg überdauert. Die durch mündliche Zeugnisse ausreichend belegte Zerstörung von Khtsgonk - übrigens genau fünfzig Jahre nach dem Völkermord - ist ein drastisches Beispiel für die auch damals anhaltende Absicht der türkischen Republik, die Zeugnisse kultureller Vergangenheit der Armenier auf türkischem Staatsgebiet auszumerzen.

Die Kreuzkirche von Ahtamar gilt in der Türkei als ein Touristikziel ersten Ranges. Verbindet sich die Christianisierung Antiochias unmittelbar mit der Apostelgeschichte, so nahm Armenien schon um 301 unter König Trdat III. - noch vor dem Toleranzedikt Konstantins des Grossen und lange vor der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion in Byzanz - den christlichen Glauben an. Im 7.Jahrhundert stiessen die arabischen Eroberer nach Ostanatolien und in den kaukasischen Raum vor. Die Palastkirche der Inselresidenz des armenischen Reichs von Vaspurakan, das als Lehen abbasidischer Kalifen begründet wurde, weist auf einen späten kulturellen Höhepunkt der immerhin fast 800 Jahre dauernden vortürkisch-christlichen Epoche Armeniens zurück. Das Monument wurde trotz seiner Bedeutung in türkischen Kulturführern bis in die jüngste Zeit unangemessen kommentiert. Die Geschichte Armeniens ist in der Türkei kaum Gegenstand des historischen Bewusstseins. Und die bedeutende armenische Vergangenheit des 1915 zerstörten Katholikossitzes und Klosters von Ahtamar wird aus der historischen Wahrnehmung ausgeblendet. Der Ort hat in der antiarmenischen Propaganda einzig im Zusammenhang mit der „Erhebung“ von Van eine negativen Konnotation. Abt Daniel, der letzte Statthalter des verwaisten Katholikats wurde im April 1915 Mitglied des Selbstverteidigungskomitees der Altstadt von Van. 1916 wurde das Katholikat von Ahtamar - zusammen mit jenem von Sis und den Patriarchaten von Konstantinopel und Jerusalem - formell aufgehoben. Wie der ausserordentliche Botschafter Wolff-Metternich damals an den deutschen Reichskanzler schrieb, bezweckte der Verwaltungsakt, die mit dem geistlich-politischen Amt verknüpfte historische Erinnerung vollständig auszulöschen. Nach den Massenverschickungen der armenischen Bevölkerung hatte das ehemalige Katholikat, wie der Botschafter subtil andeutet, ohnehin jede Bedeutung verloren.

Die Kreuzkirche von Ahtamar wurde schon vor ihrer Restauration (Wiedereröffnung 2007, s.folgenden Abschnitt) von armenischen Reisegruppen mit Teilnehmern besonders aus den USA oder etwa dem Libanon aufgesucht. Sie entzündeten in der leeren Kuppelhalle an der Stelle, wo einst der Altar stand, Kerzen und sangen gemeinsam armenische Lieder. Sie wurden dabei von türkischen Aufsehern, die erst seit kurzer Zeit während der Saison auf der Insel beschäftigt sind, in der Regel argwöhnisch beobachtet.


Berg-Karabach und Ahtamar: Friedensbedingungen und eine „grosszügige“ Geste Ankaras

Die türkische Regierung knüpfte die Befriedung der türkisch-armenischen Beziehungen und die Oeffnung der Militärgrenze im Jahr 2005 an zwei Bedingungen. Ministerpräsident Erdogan umriss sie anlässlich einer Visite in Kalifornien:  1. Armenien soll aufhören die Geschichte zu missbrauchen, um Feindseligkeit zu schüren.  2. Die Armenier müssen die völkerrechtswidrige Invasion von Berg-Karabach rückgängig machen und das aserbeidschanische Territorium verlassen.

Die Armenier bildeten in Berg-Karabach, einer wirtschaftlich wenig attraktiven Gebirgsregion, eine starke Mehrheit von 89 %, welche sich durch aserische Besiedlung im 20. Jahrhundert auf  76 % verringerte. Die Sowjetunion verhinderte den geplanten Zuschlag der Region zur Volksrepublik Armenien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion forderte die Bevölkerung Berg-Karabachs den Anschluss an Armenien. Die Vertreibung der Aseris aus Berg-Karabach löste Pogrome in Aserbeidschan gegen Armenier und einen mutuellen Bevölkerungs-Exodus von mehr als einer Million Menschen aus. Ein brutaler Krieg in der Umbruchzeit nach der Wende von 1989 forderte gegen vierzigtausend Opfer. Dass die Armenier die aserische Minderheit vertrieben und Berg-Karabach seit dem schwer errungenen Sieg gegen Aserbeid-schan als autonome Republik besetzt halten, ist in der Tat völkerrechtswidrig. Eine formaljuristische Verurteilung der Besetzung von Berg-Karabach ist dennoch problematisch, insofern sie auf die Hintergründe keine Rücksicht nimmt und eine Lösung durch Gegengewalt provoziert. Das west-armenische Schicksal Anfang des 20.Jahrhunderts prägt zutiefst die politische Identität des armenischen Volks. Bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts um Berg-Karabach müssen sowohl der Genozid im Osmanischen Reich als auch die schweren aserische Pogrome gegen Ost-Armenier - etwa 1920 in Shushi - berücksichtigt werden. Zu den Tatsachen, denen Rechnung getragen werden muss, zählt auch die fortgesetzte Benachteiligung der Armenier im turkmenischen Aserbaidschan.

Die Türkei unterstützt Aserbeidschans Rückforderung des Gebiets grundsätzlich noch heute vorbehaltlos. Die Anklage des Genozids an den Armeniern wird von Erdogan - in diplomatisch verschlüsselter Form - als Provokation und Druckmittel Armeniens zurückgewiesen. Durch Simplifizierung der Geschichte demonstriert der regionale Grossstaat Türkei wohl Macht, doch er macht damit auf Dauer keinen Staat. Ein in jüngster Zeit vorgeschlagener Gebietsabtausch hat im Rahmen einer Politik, welche den Völkermord kategorisch verleugnet, keine Grundlage zur Lösung des Konflikts. Neben der ethnisch-kulturellen Solidarität mit Aserbeidschan leiten handfeste Interessen die türkische Machtpolitik. Dass das aserbaid-schanische Erdöl und die Pipeline-Projekte der Türkei jederzeit als politisches Druckmittel gegen Armenien und die Genozid-Anklage eingesetzt werden kann, gibt dem Spiel eine besondere Note.
  
Erdogan fügte seiner Erklärung an der Konferenz in San Franzisko 2005 eine Geste an, um ihren ultimati-ven Charakter öffentlich zu mässigen und explizit „Grosszügigkeit“ zu demonstrieren: Vor kurzem habe die Türkei mit der Restaurationsarbeit an der armenischen Kirche auf der Vansee-Insel Ahtamar begonnen. Die Regierung habe den armenischen Patriarchen von Istanbul konsultiert - man erinnert sich, dass in Istanbul noch eine kleine armenische Minderheit lebt - und einen armenischen Architekten mit der Arbeit beauftragt. Die Rettung der Kreuzkirche vor dem fortschreitenden Zerfall - da waren sich alle Experten einig - durfte nicht länger aufgeschoben werden. Dass allerdings mit einer fachgerechten Restauration der touristischen Sehenswürdigkeit das Gedächtnis,  welches sich mit dem Ort verbindet, nicht auszulöschen ist, dürfte die Regierung auch im eigenen Land erfahren, sobald sie bereit ist, den Dialog vorbehaltlos zuzulassen. Zwar hat sich im Lauf der folgenden Jahre die nationalistische Grundstimmung in der Türkei radikalisiert, doch auf Dauer lässt sich die Suche nach der Wahrheit nirgends, auch in der Türkei nicht, unterbinden. Nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 manifestierte sich in der Türkei mit der Empörung gegen die Tat und das undurchsichtige Komplott der Drahtzieher im Untergrund eine Welle der Solidarität für die Sache, welche der Ermordete mutig vertrat.

Es ist verständlich, dass der Armenische Nationalrat bei der türkischen Regierung darauf drängte, mit der Restauration der Kirche auf Achtamar, welche er zu Recht als armenisches Kultur-Eigentum betrachtet, nicht zu beginnen ohne von ihm bestimmte Experten und das armenische Kulturministerium in das Projekt einzubeziehen. Doch der Anspruch war kein Verhandlungsthema. Armenien konnte das Angebot der Türkei, die gemeinsame Grenze zu öffnen, solange nicht annehmen, als es mit den zwei eingangs erwähnten Bedingungen verknüpft war. Es ist auch verständlich, dass sich Armenien auf ein türkisches Angebot nicht einlassen wollte, die Ereignisse von 1915 und den Genozid-Vorwurf durch eine bilateral zusammengsetzte Historiker-Kommission prüfen zu lassen. Es lag wohl an der Regierung in Ankara, eine konziliantere Haltung einzunehmen und der Diplomatie eine Chance zu bieten. Zwar wurde die Restauration der Kirche 2007 abgeschlossen, aber ihre feierliche Wiedereröffnung löste noch nicht die erhoffte Bewegung in der Beziehung zwischen den benachbarten Ländern aus. Der Streit um den Museumscharakter der Kreuzkirche in ihrem restaurierten Glanz, das Fehlen des historischen Stein-kreuzes auf ihrer Kuppel oder die Türkifizierung ihres Namens wird je nach Standpunkt als  Farce oder als Bagatelle betrachtet. Nationalistische Borniertheit wird man der türkischen Seite wohl nicht vorwerfen dürfen, sofern ihre Initiative zur Restauration als ernstgemeinte Einladung und Auftakt zu Verhandlungen gelten sollte.

Glaubte dieTürkei zunächst noch mit der Restauration der Kreuzkirche von Achtamar ohne Gesichtsverlust ein Zeichen der Wende setzen zu können? Unter einem solchen Symbol müsste ein vorbehaltlos offener Dialog über die Vergangenheit eigentlich eine Chance haben. Er könnte schrittweise zur Aufnahme tragender bilateraler Beziehungen,  zu einer Regelung der Grenzprobleme, zur Klärung der Schuldfrage im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1915, zur Aussöhnung der beiden Völker und einer umfassen-den Lösung der Konflikte in der Region führen. Doch der armenisch-aserische Konflikt ist für sich allein schon komplex genug und Anlass zu immer neuen Irritationen. Und über allem werfen die Ereignisse vor bald einem Jahrhundert nach wie vor ihren schweren Schatten auf die politische Gegenwart.

Wahrheitsfindung setzt den Dialog voraus. Der Dialog ist eine Sache der Ehre. Ein Prozess ist abgebrochen oder nie wirklich in Gang gebracht worden. Seine Fortführung verlangt die Bereitschaft zu Einge-ständnissen. Sie erfordert den Willen die Vergangenheit zu bewältigen. Versöhnung ist ein gemeinsamer Akt. Das Wort bringt diese Bedeutung durch seine Form zum Ausdruck. Versöhnung setzt eine simultane Leistung von beiden Seiten voraus: die interessenlose Bereitschaft, eigene Schuld zu anerkennen und das Schuldbekenntnis des anderen als einen Akt der Selbstüberwindung in seinem ganzen Gewicht zu würdigen. In welcher Form immer Sühne nach so langer Zeit einen materiellen oder symbolischen Ausdruck findet, ohne ihre Wahrhaftigkeit ist Versöhnung ausgeschlossen. Aus dem Geist dieser Einsicht heraus könnte die Umsetzung der Vereinbarung von 2009 auf Dauer zum Erfolg führen: Die Türkei und Armenien unterzeichneten in der Schweiz, welche ihre Vermittlungsdienste anbot, ohne Vorbedingungen den Entschluss zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen, zur Öffnung ihrer gemeinsamen Grenze und zur Einsetzung einer internationalen Historiker-Kommission. 

Das politische Poker um den Pipeline-Transport des aserbaidschanischen Erdölreichtums hat die Türkei zu ihren Gunsten entschieden. Die Pipeline führt durch Georgien und das ehemals auch von Armeniern besiedelte kurdische Ostanatolien. Sollte die wirtschaftlich erstarkte Türkei sich nach eingehender Auseinandersetzung mit lange verdrängten Fakten und ihrer mutuellen Interpretation zum Eingeständnis einer Schuld gegenüber dem armenischen Volk durchringen, so könnte sie - idealistisch gedacht - kraft ihrer Autorität auch zwischen Aserbeidschan und Armenien vermitteln und die Lösung des Konflikts um Berg-Karabach anstreben. Berg-Karabach ist arm und vom vergangenen Krieg schwer gezeichnet. Es lebt unter der Drohung einer Invasion zwischen Grenzen, welche mit einer Kriegsfront identisch sind. Das gegenwärtige Militärbudget Aserbeidschans ist grösser als das gesamte Staatsbudget der Republik Armenien. Falls der oligarchisch regierte Erdölstaat die Verhandlungsoption ausschlägt und sich zur Gewaltlösung mit militärischen Mitteln entschliesst, dann wäre diese indirekt durch die Geschichtsinterpretation  mitbegründet, an welcher die offizielle Türkei zumindest bis 2009 festhielt.

Als im November 2010 in der Kreuzkirche auf der Insel Achtamar erstmals offiziell eine armenische Messe zelebriert werden durfte, war das Steinkreuz auf ihrer Kuppel aufgerichtet. Der von zahlreichen Armeniern besuchte Anlass war eindrücklich. Doch er wurde von hässlichen Tönen und Nebenereignissen begleitet, für welche hauptsächlich die türkisch-nationalistische Seite verantwortlich ist. So organisierte die Führung der rechtsradikalen MPH in der armenischen Ruinenstadt Ani an der noch geschlossenen Grenze Armeniens unweit von Kars eine muslimische Gebetsversammlung. Welche Absicht steht hinter dem auf einer Wahlveranstaltung in Kars Anfang 2011 an die Adresse der Stadtregierung gerichteten Vorschlag Ministerpräsident Erdogans, ein grosses (noch unabgeschlossenes) Denkmal der armenisch-türkischen Freundschaft in der Umgebung islamischer Grabmäler zu beseitigen?  


Das Minderheitenproblem der Türkei und die Logik der Leugnungs-Strategie

Als türkische Historiker, welche nicht die offizielle Geschichtsdoktrin vertreten, im Mai 2005 an der Bos-porus Universität in Istanbul eine Konferenz organisierten, um die Armenierfrage in wissenschaftlicher Unabhängigkeit zu debattieren, argwöhnte die türkische Justiz Verrat. Justizminister Cemil Cicek beschuldigte die Akademiker, einen Dolchstoss in den Rücken der Nation vorzubereiten. Die Konferenz wurde durch richterliche Verfügung untersagt. Die Wissenschaft gab den Schikanen der Justiz und dem bedrohlichen Druck der Nationalisten nach. Als im September ein zum zweiten Mal angesagtes Treffen erneut verboten wurde, protestierte die Regierung Erdogan gegen die Unterdrückung der akademischen Freiheit, denn es war zu befürchten, dass die ultranationalistische Offensive der Justiz die Menschen-rechtsaktivisten der Türkei und Europas auf den Plan rief und die anlaufenden Verhandlungen mit der EU gefährdete. Die Historiker-Konferenz fand schliesslich an der privaten Bilgi-Universität - gleichsam exterritorial - hinter verschlossenen Türen statt. Beim Betreten der Universität unter Polizeischutz hatten die Teilnehmer zwischen einem Spalier rasender Rechtsextremisten einen Spiessrutenlauf zu absolvieren. Die Strafdrohung des Gummiparagraphen 301 wegen „Beleidigung des Türkentums und der Republik“ wurde durch den keineswegs harmlosen Druck der Strasse verstärkt. Die Justiz machte sich zum Vor-spann einer radikal-nationalistischen Politik. Die Vorgänge riefen böse Erinnerungen an Putschzeiten wach und strafen die Behauptung von der politischen Unabhängigkeit der dritten Gewalt Lügen.

Man zögert zu bezweifeln, dass dem Justizminister die Bedeutung und Konsequenz der sogenannten Dolchstosslegende im Kontext der deutschen Geschichte bewusst sei. Angesichts der politischen Unwäg-barkeiten im Mittleren Osten mutet allerdings die Serie von Prozessen gegen Intellektuelle, wie den Schriftsteller Orhan Pamuk oder den 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, etwas gespenstisch an. Sind sie etwa bloss ein Spiel sich verflüchtigenden Schatten der Vergangenheit? Die Türkei hat unter der Regierung Erdogan - man möchte hoffen unwiderruflich - den Weg nach Europa eingeschlagen. Unter dieser Perspektive lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Justiz wohl als ein Prozess um die Auslegung des Paragraphen 301 verstehen. Möglich, dass er endlich mit dessen unzweideutigen Aufhebung endet. Denkbar und wünschbar wäre, dass sich heute die Vorübung einer Verfassungsreform abspielt, welche die Hindernisse der Meinungsfreiheit beseitigen wird. Doch vorläufig ist die offizielle Doktrin in der Armenierfrage, von welcher auch die Regierung bisher nicht abrückt, rechtskräftig. Mit allen Mitteln wird der wahre Charakter der Deportationen von 1915 herunter-gespielt: Es handelt sich um einen Pseudo-Genozid armenischer Mache. Wer öffentlich behauptet, in der Türkei habe ein Völkermord stattgefunden, macht sich wie Orhan Pamuk strafbar.

Seit der Eröffnung der EU-Beitrittsgespräche hat sich der internationale Druck auf die Türkei, die Geschichte der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich aufzuarbeiten, verstärkt. Psychologisch nachvollziehbarer Widerstand gegen einen als Herausforderung empfundnen Druck von aussen erklärt die Verweigerungs-Strategie der Türkei und besonders den machtvollen Aufwand des Staatsschutzes zu ihrer Durchsetzung nach innen bei weitem nicht. Schliesslich sind die territorialen Ansprüche seit 1923 international geregelt und allfällige Entschädigungsansprüche Armeniens könnte die Türkei als juristisch gegenstandslos erklären. Sowohl die Eroberung Westarmeniens durch türkische Truppen 1920/21 und der Diktatfrieden Atatürks von Alexandropol als auch die Durchdringung und Zerstückelung Ostarmeniens durch die Sowjetmacht mit Hilfe armenischer Revolutionskader haben die Fakten geschaffen, welche durch die Unterzeichnermächte des Vertrags von Lausanne ratifiziert wurden. Für beispiellose Pogrome und Strafexekutionen, welche die Eroberungen von 1916 bis 1922 und die Bürgerkriegswirren im Transkaukasus begleiteten, sind ausserdem nicht allein türkische, sondern ebenso russische, armenische oder aserbeidschanische Organe und Einheiten verantwortlich.

Wenn die Türkei heute - bald ein Jahrhundert später - jede Schuld an einem Völkermord kategorisch zurückweist, dann liegt der realpolitische Grund im nach wie vor  u n b e w ä l t i g -
t e n  N a t i o n a l i t ä t e n p r o b l e m  des Landes. Die Schuldbehauptung wird von den türkischen Regierungsorganen und einer breiten Oeffentlichkeit als Dolchstoss kriminalisiert, weil die Erben Atatürks in ihr eine tödliche G e f a h r   f ü r   d i e   E i n h e i t   d e r   N a t i o n   zu erkennen glauben. Kreise türkischer Intellektueller im In- und Ausland wollen den tieferen Grund des rigiden Nationalismus  in einer - durch Propaganda wachgehaltenen – „paranoiden Angst“ vor Unterwanderung und territorialer Spaltung des Landes ausmachen. Das Problem ist komplexer als Schlagwort-Argumente den Anschein wecken.  

Die Begründung der nationalen Einheit von oben durch den Befreiungskrieg und die nationale Revolution Atatürks war ein mit Risiken verbundener Parforceakt. Nach dem Zusammenbruch der abenteuerlichen griechischen Offensive vollzog sich um 1922/23 der gewaltsame Exodus der Griechen und die Rückkehr der Europatürken. Dem Austausch der ethnischen Minderheiten folgte die Unterdrückung der kurdischen Sprache und Kultur. Die Kurden hatten Atatürk während der Befreiungskriege, in vager Hoffnung auf Reformen, auf den Schutz ihrer kulturellen Autonomie und ihrer Stammesprivilegien bauend, im Kampf gegen die Ungläubigen unterstützt. Enttäuscht sahen sie bald ein, dass ihre Loyalität durch falsche Versprechungen erkauft worden war. Das Kalifat wurde abgeschafft, die religiösen Schulen wurden geschlossen. Die Verwaltungssprache, das Türkische, wurde als Sprache der Staatsschule obligatorisch und die Reformen liessen auf sich warten.

Die Verhandlungen in Lausanne hatte 1923 der Kemalist Ismet Inönü auch im Namen der Kurden geführt. Den Autonomie-Zusicherungen des Vertrags von Sèvres war durch das Resultat des Befreiungskriegs die politische Grundlage entzogen. Uneinig und durch die Versprechungen getäuscht, hatten die Kurden den Vertrag von Lausanne grundsätzlich akzeptiert und den Anspruch auf politische Unabhängigkeit preis-gegeben. Die Republik demonstrierte ihre Macht 1925 mit der Niederschlagung des kurdischen Aufstands unter Scheich Said. Der Autonomiewille der Kurden wurde darauf unter Atatürk wiederholt mit beispielloser Brutalität gebrochen, so 1930 am Ararat  und 1937/38 in der alewitischen Provinz Dersim. Die Kurden sind, wie bis 1915 die Armenier, eine grosse grenzüberschreitende Ethnie. Der Kern des historischen Siedlungsgebiets der Kurden innerhalb der Türkei liegt in Ost- und Südostanatolien; durch Migration sind sie aber besonders stark in den grossen Zentren der Westtürkei vertreten. Die bedeutende überwiegend sunnitische Minderheit der Kurden umfasst heute auf türkischem Staatsgebiet nach Schätzungen unter völlig unterschiedlichen Kriterien zwischen 6 und 15 Millionen Angehörige.

Mit dem Ideal türkisch-nationaler Einheit steht die Ehre und Integrität der durch ihren Gründer Atatürk personifizierten Republik auf dem Spiel. Einen entscheidenden Schritt zur Schaffung der nationalen Einheit und zur Modernisierung der Gesellschaft hatten allerdings unbestreitbar die Jungtürken getan. Die offizielle Türkei interpretiert die Prozesse von 1919-21 gegen Verantwortliche am armenischen Völkermord als eine von den Alliierten aufgezwungene Demütigung. Der „Siegerjustiz“ wird sowohl die Legitimität als auch die Beweiskraft abgesprochen. Atatürk und seine Nachfolger haben sich von den Jungtürken und der heroischen Zeit der Abwehrschlacht um Gallipoli grundsätzlich niemals abgesetzt. Die Republik konnte den ottomanischen Unionismus nicht annihilieren, indem sie ihn mit der Anklage des Genozids an den Armeniern belastete und die Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt kriminalisierte, wo doch die nationale Einheit gegenüber anderen Minoritäten wie jener der Kurden noch durchzusetzen und der an Europa orientierte Fortschritt gegen die Macht der Tradition zu behaupten war.

Die Macht der Tradition war jedenfalls, wie sich bald zeigen sollte, zu zwingend, als dass die nach einem abstrakten europäischen Verfassungsmodell zugeschnittene säkulare Republik aus sich selbst lebensfähig gewesen wäre. Schon die Jungtürken verbanden den Unionismus ideologisch mit einem aufgeklärten Osmanismus. Atatürk führte das staatliche Reformwerk auf der von den Jungtürken gelegten Basis weiter. Die Idee der Einheit wurde durch die Verfassung sakralisiert, die Pfeiler der kemalistischen Ideologie durch die Symbole und Riten eines aufwendigen Staatskults untermauert. Die Bewahrung des Islams als Staatsreligion und seine kontrollierte Erneuerung als Einheit stiftende Macht steht zwar in einem prinzipiellen  Widerspruch zur Säkularisation der staatlichen Einrichtungen und Bildungsanstalten, folgt aber angesichts des Spaltungsrisikos, welchem die Republik bis zur Stunde ausgesetzt blieb, einer politischen Logik. 

Es ist nicht zu übersehen, dass der Islamismus trotz seiner Integrationskraft für den modernen türkischen Staat auch eine enorme Herausforderung darstellt. Sein Konfliktpotential zeigt sich heute zum Beispiel am Kopftuchstreit, am Zulauf der privaten Predigerschulen und schliesslich an der Erstarkung einer radikalen Hizbollah. Letztere hat für ihre Zwecke im Kampf gegen die säkulare Demokratie gemäss den Ermitt-lungen der  Staatsanwaltschaft in jüngster Zeit auch terroristische Mittel nach dem Vorbild der Al-Khaida eingesetzt. Dass die Hizbollah von den Sicherheitskräften während des Kriegs gegen die PKK als krimineller Arm im Untergrund mobilisiert worden war und Tausende von Anhängern der kurdischen Unabhängig-keitsbewegung ermordet hatte, gehört zu den brisanten  Paradoxien türkischer Geschichte. Der radikale Islamismus profitiert besonders in den unterentwickelten ländlichen Regionen und in den Gecekondus der Grossstädte von den Spannungen des unbewältigten Nationalitäten-konflikts.

Der antiliberale Schriftsteller und Journalist Lois Veuillot schrieb 1871, nach den Wirren des Kommune-Aufstands in Frankreich, die Zeitungen seien eine solche Gefahr geworden, dass es notwendig sei, ihrer viele zu schaffen, um sie durch ihre Menge zu neutralisieren. Trotz eines erstaunlichen Medien- und Parteienpluralismus in der Türkei behindert die Tabuisierung jedes Spaltungsansatzes, wenn es um Grundsatzfragen geht, den kritischen Diskurs und begründet das Dilemma der Republik, welches im Pamuk-Prozess einmal mehr peinlich zum Vorschein tritt. Orhan Pamuk wurde in der Türkei wegen Beleidigung der türkischen Nation angeklagt, weil er im Februar 2005 gegenüber dem „Magazin“ des Zürcher „Tages-Anzeigers“ erklärt hatte, dass im Staatsgebiet der heutigen Türkei während des Ersten Weltkriegs eine Million Armenier und seit 1980 über 30`000 Kurden ermordet worden seien. Zur gleichen Zeit spielte sich in der Schweiz der zwielichtige Führer der kleinen Isci-Partei - einer sozialistischen türkischen Alibi-Partei der Arbeit - im Zusammenhang mit der Armenierfrage auf. Dogan Perincek vertrat provokativ die türkische Leugnungsthese, nachdem die offizielle Schweiz wie die EU und einzelne europäische Staaten die Tatsache des Genozids anerkannt und teilweise die Geschichtslüge als strafbar erklärt hatten. An der Äusserung Pamuks ist interessant, dass er den Genozid an den Armeniern und den Krieg gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung im gleichen Zusammenhang erwähnt. Im Uebrigen unterlässt er es allerdings, seine pauschal formulierte Anschuldigung zu konkretisieren.

Die Strafjustiz kann auf der Grundlage dokumentierter, gesicherter Fakten über den Wahrheitsgehalt einzelner Aussagen zu historischen Ereignissen urteilen. Es gehört zu ihren Aufgaben, politische Irrefüh-rung durch gezielte Entstellung geschichtlicher Fakten strafrechtlich zu verfolgen. Keine staatliche Instanz - weder eine politische noch juristische - ist jedoch in einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung legitimiert, unter Ausschluss der öffentlichen Meinung über die historische Wahrheit und ihre Verhandelbarkeit zu entscheiden. In anderen Worten: Staatliche Gewalt steht nicht souverän über der öffentlichen Meinung. Die Meinungsfreiheit  - die Zulassung der öffentlichen Meinungsbildung - ist eine unabdingbare Voraussetzung der historischen Wahrheitsfindung. Solange eine Doktrin oder ein Gesetz, das nicht durch die öffentliche politische oder wissenschaftliche Debatte einen allgemeinen Konsens erworben hat, als Grundlage zur Verurteilung einer Meinungsäusserung dient, fehlt der Justiz die Legitimität und ihrem Urteil die auch international anzustrebende Glaubwürdigkeit.

Orhan Pamuk wurde vom Gericht Anfang Januar 2006 aufgefordert, sich gegenüber dem türkischen Volk zu entschuldigen. Solche Gerichtsverfahren erinnern bedenklich an die Zeit der Inquisition. Wird dem Angeklagten die Chance eingeräumt, die vom Gericht zu verhängende Strafe von sich abzuwenden und den Prozess hinfällig zu machen, wenn er seine Behauptung abschwört? Der Prozess wurde am 23.Januar aus formaljuristischen und nicht etwa inhaltlichen Gründen sistiert. Die Erklärung des Gerichts stellt die Abhängigkeit der Justiz von den politischen Einflussträgern bloss. Die Regierung ihrerseits zieht sich mit einer moralischen Verurteilung des Angeklagten aus der Affäre, da sie an der Geschichtsdoktrin festhält und den Paragraphen 301 nicht ausser Kraft setzen kann: Orhan Pamuk, lässt sich der Justiz-minister in selbstgefälligem Ton herab zu erklären, hätte keine juristischen Probleme, wenn er öffentlich bekannt hätte, er sei stolz, ein Türke zu sein! Die am Anfang zitierte Devise Atatürks („Glücklich schätze sich, wer ein Türke ist!“) dient sich an, die Peinlichkeit der Widersprüche zu verdecken. Pamuk müsste allerdings den Wortlaut der Äusserung, durch welche er sich einen Prozess aufhalste, modifizieren oder zumindest präzisieren. Kann ihm der Staat diese Möglichkeit überhaupt zugestehen, solange schon jede Erwähnung des Themas, welche eine Verantwortung der Nation für den Völkermord impliziert, strafbar ist?

Während des Kriegs gegen die PKK wurden die Armenier von der türkischen Propaganda beschuldigt, zum kurdischen Widerstand aufzuhetzen und die Guerillas sogar militärisch und logistisch zu unterstützen. Historisch kam eine Kollaboration zwischen Kurden und Armeniern schon im ersten Jahrzehnt nach der Republikgründung zustande. Die in Beirut begründete Choibun-Allianz, welche divergierende kurdische Kräfte zum Aufstand am Ararat vereinigte, wurde von den armenischen Nationalisten, der führenden Exilpartei der Daschnakzutjun, in ihrer Politik um internationale Anerkennung diplomatisch unterstützt. Die armenischen Nationalisten leisteten den Aufständischen damals auch finanzielle und militärische Hilfe. Dass die Kurden zwischen ihrer und der armenischen Geschichte oder dem Verhältnis beider Volksgruppen zum osmanischen beziehungsweise türkischen Staat eine Analogie herstellen, ist übrigens keineswegs naheliegend. Denn das Verhältnis zwischen Kurden und Armeniern ist durch den ethnischen Konflikt der Vergangenheit und die auf den Genozid folgende Besitznahme ehemals armenisch besiedelter Territorien durch die Kurden schwer belastet. Wenn die Analogie neuerdings in der kurdischen Propaganda wieder eine gewisse Rolle spielt, dann zielt sie dahin zu belegen, dass die Spaltung der türkischen Nation eine genealogisch und politisch begründete Realität ist und armenisches Schicksal sich am Beispiel der Kurden wiederholt: Die Kurden waren und sind, sofern ihre Organisationen eine kulturelle - geschwei-ge denn selbst eingeschränkte politische - Autonomie anstreben, als Verräter an der Nation gebrandmarkt.

Eine mit dem Kontext der nationalen Geschichte verwachsene „Dolchstoss“-These begründet eine Art von Fehme-Urteil. Dieses wurde und wird bei bewaffnetem Verrat gnadenlos vollstreckt. Das heisst konkret: So wenig es im Fall einer Sezession einer Kriegserklärung bedarf, gibt es grundsätzlich einen Anspruch auf Friedensschluss, Verhandlungen oder Begnadigung. Die Türkei war nach der militärischen Niederlage der PKK und der Verhaftung Oecalans - nach einer internationalen Jagd durch den türkischen Geheim-dienst - nicht bereit, den Mitgliedern der bewaffneten Miliz, welche 1999 einen einseitigen Waffenstillstand erklärt und sich auf irakisches Territorium zurückgezogen hatten, Amnestie zu gewähren. 2004 brach eine Fraktion der PKK, die Kongra-Gel, den von der PKK erklärten Waffenstillstand und die Kämpfer bezogen in der Osttürkei - ihrer Heimat - wieder ihre Positionen. Unweigerlich ereigneten sich seit dem Sommer 2004 wieder zahlreiche blutige Zusammenstösse zwischen türkischen Sicherheitskräften und der Guerilla.

Folgende Erfahrung aus der Ararat-Region illustriert - wie zahlreiche andere Beispiele - die Labilität der Situation in dem von wirtschaftlicher Not und traditionellem Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen geprägten Osten der Türkei. Die Wiederbelebung der erwähnten historischen Schicksals-Analogie zwischen Kurden und Armeniern manifestierte sich in der Zeit der Krise. Ein im Sommer 2004 aus Diyarbakir in sein Dorf am Ararat heimgekehrter Geschichtsstudent äusserte sich in Gegenwart von Dorfältesten und zahlreichen Familienmitgliedern in einem Privathaus über den Genozid an den Armeniern, über das prekäre Verhältnis der türkischen Republik zu den Kurden und die Verschleppung wirksamer Reformen und wirtschaftlicher Entwicklung. Die Bewohner des Dorfs zählen wie zahlreiche Dörfer der Region zu einem rebellischen Stamm, welcher den heroischen Mythus seiner Vergangenheit pflegt. Was der junge Kurde in einer affektgeladenen Anklagerede vortrug, in welcher Tatsachen und Halbwahrheiten sich die Waage hielten, hätte öffentlich ausgesprochen auf der Grundlage des Artikels 301 und anderer Gesetze zur Anklage führen müssen. Möglicherweise wären einzelne Aussagen im Fall eines Prozesses unter den in Ostanatolien gegenwärtig herrschenden Bedingungen sogar auf der Grundlage des Gesetzesartikels über die Anstiftung zum Separatismus abgeurteilt worden.

Nicht selten gipfelte die Anklage gegen den Staat in haltlosen Ausserungen, welche man im Wortlaut etwa so zu hören bekommt: „Die Türkei - das ist Hitler!“ Die schlagwortartige Identifikation ist Ausdruck radikal-kurdischer Hass-Propaganda. Sie stellt eine assoziative Beziehung zwischen dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden und dem türkischen an den Armeniern her. Unterschwellig schliesst sie die vom Staat praktizierte Gewalt gegenüber den Kurden unter dem Begriff Genozid ein. Die auf solche Weise propagandistisch ausgeschlachtete Analogie zwischen dem armenischen und dem kurdischen Schicksal ist undifferenziert; sie stiftet Verwirrung und untergräbt den mühsam in Gang gekommenen politischen Dialog. Die Aggressivität dieser Anklage ist allerdings als Ueberreaktion auf das Verschweigen zu interprepretieren, auf die lange Zeit geübte Verweigerung des Dialogs über Minderheitsansprüche und die Tabuisierung kritischer Fragen zu schweren Menschenrechts-Verletzungen durch den türkischen Staat.

Die Wiederbelebung einer kurdischen Diskussion der erwähnten Analogie wurde zweifellos durch die Stellungnahme der EU und ihrer Mitgliedstaaten in der Armenierfrage sowie die laufende Verurteilung der Türkei wegen zahlreicher Menschenrechts-Verletzungen veranlasst. Die sozialen und politischen Hintergründe des bedeutendsten Minderheitsproblems der Türkei, des Kurdenkonflikts, sind besonders komplex, weil sie mit den aktuellen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten verhängt sind.

Geregelte wirtschaftliche Entwicklung ist eine Garantie für zunehmende Stabilität. Wenn Grenzen geöffnet, neue Handelsräume geschaffen, bestehende erweitert und politisch abgesichert würden, dann könnten sich die Entwicklungschancen der wirtschaftlich armen, randständigen Regionen der Osttürkei verstärken und würde zugleich dem - vorab von Clans und ihrer Klientel betriebenen - Schmuggel und der Korruption der Boden entzogen. Der Nordirak verfügt auf Grund seiner Erdölvorkommen über ein enormes wirtschaftliches Potential. Das Bruttosozialprodukt der Region ist heute schon gut zehnmal höher als jenes Ostanatoliens. Man möchte sich vorstellen, wie sich die Situation verändern könnte, falls die Türkei von einer primär militärisch abgestützten Position, welche wenig Spielraum für Alternativen zulässt, in einem Schritt phantasievoller Realpolitik abrücken würde. Und man stellt sich die Frage, welche Dynamik in Gang käme, wenn sich folgendes Szenario erfüllen könnte: Die türkische Regierung würde  a. die Republik Armenien anerkennen, die öffentliche Diskussion über die Vergangenheit zulassen, diplomatische sowie wirtschaftliche Beziehungen zu Armenien aufbauen und einen Beitrag zur Aussöhnung zwischen Armenien und Aserbaidschan leisten   b. gleichzeitig die begonnenen diplomatischen Initiativen zur Förderung einer foederalistischen Regelung im Irak weiterführen und den wirtschaftlichen Austausch insbesondere mit dem erdölreichen kurdischen Nordirak handelspolitisch absichern und entwickeln.

Hoffnungen auf demokratische Lösungen im Mittleren Osten werden allerdings von Fragen durchkreuzt. Unberechenbar sind die Zukunft der islamischen Revolution und die Rolle einer potentiellen Atommacht Iran ebenso wie die Entwicklung im bürgerkriegsgefährdeten Irak oder im Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten. Völlig ungewiss ist der Ausgang der 2011 ausgebrochenen Revolutionen in arabischen Ländern. Regional entscheidend ist insbesondere die Zukunft Syriens, wo sich möglicherweise ein Bürgerkrieg anbahnt und komplexe Verhältnisse aufzubrechen drohen.


Perspektiven: Der Erzieherstaat Türkei, das Minoritätenproblem und die Beziehung zu Europa

Eine stille Manifestation gegen die Geschichts-Fiktion des Erzieher-Staates an der EXPO 2000

An der Weltausstellung in Hannover präsentierte die Republik Armenien ihre Kultur und Geschichte in einer zweigeteilten Arche. Im Bauch des holzgezimmerten Schiffs erinnerte ein altarartiger Aufbau mit Fotodokumenten der Massaker an den Genozid von 1915/16. Das legendäre Araratmassiv trennte die Landschaft Armenien zwischen Van- und Sewansee geografisch und vereinte sie zugleich symbolisch. Die Anspielung auf den Sintflutmythus unterstreicht die enge Beziehung der Armenier zu ihrer vom Berg dominierten historischen Heimat. Die Zweiteilung der Arche sollte ihre aktuelle politische Spaltung vergegenwärtigen. Die Miltärgrenze, welche heute die historischen Hälften Ost- und Westarmenien unver-söhnlich entzweischneidet, folgt dem Fluss Aras am Ostfuss des Massivs und schliesst den „heiligen Berg“ vollständig in das Staatsgebiet der Türkei ein. Der armenische Pavillon stellte für die Türkei eine schwere Provokation dar, weil seine kleine Ausstellung den Genozid dokumentierte und seine Architektur einen Anspruch auf das historische West-Armenien zu demonstrieren schien. Bei den Besuchern verfehlte die pointierte Selbstdarstellung der Armenischen Republik wohl gerade durch die äusserlich bescheidene Form der Inszenierung ihre beabsichtigte Wirkung kaum.

Die EXPO-Besucher, welche über eine monumentale Treppe den weissen Türkei-Pavillon betreten hatten, durften das Land nicht auf eigene Faust entdecken. Sie wurden beim Eintritt von uniformierten Stewardessen und Stewarts empfangen. Auf einem Podium hatten sie sich zu einer Lektion zu gedulden, welche den Sinn des Ausflugs erklärte, bevor sie gruppenweise im Zeittakt durch eine grandios arrangierte multimediale Show geführt wurden. Im Zentrum des Picture-Anatolien öffnete sich ein anderer Berg, der Nemrut von Adiyaman, dessen künstlich aufgeschüttete Spitze die Grabkammer des kommagenischen Königs Antiochos I. umschliesst. Dieser Monarch, welcher sich durch einen aufwendigen Staatskult als „Soter“ (Retter) verehren liess, wurde gemäss seinem Mythos in einen Stern verwandelt. In einer Super-Diorama-Vision umschwebte der Zuschauer wie ein kreisender Adler den Gipfel mit den Kolossalstatuen der Götter und Ahnen und drang dann in einer virtuellen Fahrt in das noch uneröffnete Geheimnis seines Inneren. Mit einer schwindelerregenden High-Tech-Veranstaltung bekräftigte die Türkei ihre national-historische Theorie vom hethitischen Ursprung ihrer Kultur und machte an der Expo 2000 zugleich aufdringlich Touristik-Werbung. Der Pavillon, der besser nach Las Vegas gepasst hätte, sollte wahrscheinlich investitionsfreudigen Amerikanern und Deutschen Eindruck machen. Er präsentierte nicht das Land, das ich kenne, sondern eine Fiktion. Den Fragen verschloss er sich.


Ein brisanter Fall zur Minoritätenfrage und die Perspektive eines EU-Beitritts

Die Internet-Unterweisung zur armenischen Frage, welche das türkische Kulturministerium geschickt in touristische Information über Folklore und Sehenswürdigkeiten verpackt offeriert, macht deutlich, dass die Zeit für eine offene Debatte zwischen den dafür Zuständigen noch nicht angebrochen ist.  An den Lisés und Universitäten dominiert der konventionelle Schul- und Prüfungsbetrieb. Die Auseinandersetzung um die historische Wahrheit, welche der Interpretation immer Spielraum zugesteht, würde mit der quellen-kritischen Arbeit und dem Dialog beginnen, für den die boykottierte Konferenz an der Bilgi-Universität ein Pionierbeispiel wäre. Die Antworten sind nicht den Propagandisten, sondern den unparteiischen (durch keinen politischen Druck beeinflussten!) Historikern zu überlassen. Nicht anders als die armenische Frage ist das Minderheitenproblem der Türkei generell immer noch durch Tabus belastet, welche die öffentliche Debatte über das Thema blockieren.

Einer der jüngeren Fälle einer Serie von Prozessen, welche die ultranationalistisch durchsetzte Justiz gegen Intellektuelle anstrengt, öffnete vor wenigen Jahren im Zusammenhang mit der Minoritätenfrage einen Schnitt in den faschistoiden Kern staatlich sanktionierter, im sogenannten „tiefen Staat“ verankerter, Verdrängungspraxis. Der von der Regierung gegründete Menschenrechtsausschuss beauftragte zwei Professoren, einen Bericht zum Minderheitenproblem zu verfassen. Die beiden Experten machten den Vorschlag, die kollektive Identitätsbezeichnung „Türk“ durch „Türkiyeli“ zu ersetzen. Der empfohlene Oberbegriff hat als Herkunftsbezeichnung etwa die Bedeutung „der Türkei entstammend/angehörig“ oder „türkischer Staatsangehöriger“ (analog der Bezeichnung „britischer Staatsangehöriger“). Durch diese auf Verfas-sungsebene zu regelnde Massnahme wären die Bezeichnungen der ethnisch-kulturellen Identitäten - wie „Türke“, „Kurde“, „Armenier“, „Araber“, „Kaukasier“ - ohne semantischen Widerspruch einzu-schliessen. Die politische und ethnisch-kulturelle Doppel-Identität wäre mit einem liberalen Begriff der Nation grundsätzlich vereinbar und historisch begründet.  

Die beiden Professoren wurden, als sie ihren Bericht vorlegten, vor dem Menschenrechtsausschuss gedemütigt - ein konservatives Mitglied zerriss das Dossier! - und auf Grund des Strafgesetz-Artikels 216 der Volksverhetzung angeklagt. Stossend ist bei diesem Fall weniger die voraussehbare Tatsache, dass der diskutable Vorschlag von Parlament und Verfassungsgericht als nicht-verfassungskonform zurückgewiesen würde, als vielmehr der Umstand, dass allein schon die Diskussion der Frage durch die Anklage wegen „Anstachelung zu Feindseligkeit und Hass“ abgedrosselt wird. Dass die Auftraggeberin selbst, die Regierung Erdogan, sich vom Expertenbericht distanzierte, war Ausdruck der Befürchtung, den Anstoss der rührigen Verfassungswächter oder des Nationalen Sicherheitsrats auf sich zu ziehen oder in den Medien eine nicht mehr kontrollierbare öffentliche Debatte auszulösen, welche die damals noch exponierte Autorität der Regierung untergraben konnte.

Das Beispiel dokumentiert ähnlich wie die Akademiker-Konferenz zur Armenierfrage und ihre Folgen, ein für die türkische Gesellschaft grundtypisches Verfahrensmuster. Ein Diskurs, der von vorausgesetzten Wahrheiten ausgeht - sich also beispielsweise an unantastbare Normen tribaler Tradition, dogmatische Prinzipien staatlicher Ordnung oder religiöser Lehre bindet - verschliesst sich der Fragwürdigkeit der Begriffe. Dass es dem Erzieher-Staat an einer Diskussionskultur ermangelt, beklagen türkische Intellektuelle im Ausland öffentlich. Wenn die mit  der Gesellschaft verwachsenen autoritären Strukturen aufbrechen, wenn das Selbstbewusstsein einer noch sehr fragilen Zivilgesellschaft erstarken soll, dann ist die Erweiterung des Zugangs zu einer von den Normen traditioneller Pädagogik und veralteten Lehrplänen emanzipierten Bildung entscheidend. Erforderlich wäre aus europäischer Sicht der Mut zur Dynamik einer landesweiten Bildungsreform, welche mit dem national-pädagogischen Ballast aufräumt und das selbständige kritische Denken fördert. Gleichzeitig wäre der entstehende Freiraum durch eine umfassende Liberali-sierung des Strafrechts zu sichern.

Der sogenannte militärisch-industrielle Komplex der Türkei ist nach wie vor einflussreich, seine Direktiven bestimmen die Hauptakzente der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Im wirtschaftlich ver-nachlässigten Osten des Landes erlangte die Doktrin militärischer Lösungen nach 2004 wieder den Vorrang. Eine wirklich innovative Wirtschaftspolitik würde sich nicht auf quantitatives Wachstum konzentrieren, um die Aufholjagd auf den Kapitalmärkten - gegen wen? - zu gewinnen. Sie würde nicht vorrangig wenig arbeitsintensive, mit Hochtechnologie ausgerüstete Produktionszweige, Niederlassungen modernster Werke ausländischer Automobilkonzerne, eine auf westliche Bedürfnisse abgestimmte gigan-tische, aber krisenanfällige Fremdenindustrie oder die Glanzkulisse aufschiessender Wirtschaftszentren und Satellitenstädte fördern. Vielmehr würde sie entschiedener ihre Entwicklungsschwerpunkte mit dem Ziel verlagern, das Gefälle West-Ost/ Provinz-Zentrum abzubauen und die regionale Chancengleichheit zu verbessern. Denn nur dadurch kann es langfristig gelingen, die Binnenmigration  einzudämmen, die trotz oder gerade wegen der boomenden Wirtschaft wachsende soziale Disparität in den Griff zu bekommen und Armut und Ausgrenzung sowohl der vernachlässigten Provinzen als auch der Gecekondus, der aus-ufernden Migrantensiedlungen in den sttädtischen Agglomerationen, zu überwinden. Bildungsreform, Liberalisierung des Rechts und wirtschaftliche Entwicklung müssten sich wechselseitig - als Motor und Bedingung - ergänzen. Nicht Grössenwachstum, sondern Entwicklung - Verteilungsgerechtigkeit! - müsste das Leitziel für die Zukunft des Landes sein.

Eine Kulturrevolution nach dem Paradigma der europäischen Aufklärung bestünde in der Umsetzung der Einsicht, dass nicht staatliche Leitung, sondern Selbstverantwortung den Menschen letztlich zu seinem Glück führt. Aus solcher idealistischer Perspektive wäre dann wohl die in der Einleitung zitierte Devise Atatürks neu folgendermassen zu formulieren: „Glücklich ist, wer als Bürger eines Staats die Chance ergreifen kann, sich selbst - als Individuum - zu verwirklichen.“ Europäische Zielvorstellungen oder Ansprüche müssen sich heute allerdings selbstkritisch an gesellschaftlichen Realitäten messen. Wie weit ist das politische und kulturelle Programm der Aufklärung im Zeitalter scheinbar unbegrenzter Wunsch-befriedigung durch den an Waren und Information überquellenden Markt und den ihm innewohnenden Möglichkeiten raffinierter Bedürfnissteuerung erfüllt oder gescheitert?

Die moderne auf Europa ausgerichtete Türkei steht in ihrer jüngeren Geschichte in einem durch die instabile regionale Lage verschärften Entscheidungskonflikt. Die Gefahr besteht, dass Europa bei der Formulierung der Aufnahmebedingungen für die Türkei ein unangemessenes Anforderungsprofil setzt. Zynismus aus Überheblichkeit ist zu vermeiden. Möglicherweise verkennt das liberalistische Gesellschaftskonzept, welches die EU repräsentiert, die Chancen des alternativen Wegs einer spezifisch islamischen - nicht-individualistischen - Aufklärungs-kultur.

Was sich heute (2011) mit der sogenannten „arabischen Revolution“ anbahnt, lässt sich nicht auf das Ende hin voraussehen. Stimmen unter den Akteuren dieses Aufbruchs bezweifeln, dass die Türkei in Anbetracht ihrer zahlreichen ungelösten Minderheitsprobleme und ihres Umgangs mit Kritik - mit dem Menschenrecht freier Meinungsäusserung! -, wie schon erwogen, eine Vorbildrolle für demokratische Reformen spielen kann. Bedenken erregende Beispiele sind etwa: das rigide Verhältnis der Staatsorgane zum liberalen Alewismus, der durch Verdächtigungen und Verhaftungen immer wieder auflebende Kurden-konflikt und der durch eingeschliffene Reflexe gefährdete Armeniendiskurs. Die harten Bandagen und bisweilen fragwürdigen Methoden, mit denen der Machtkampf zwischen den prominenten Parteien und Institutionen ausgetragen wird, und die wiederkehrenden Spekulationen um einen „tiefen Staat“ können solche Vorbehalte gewiss auch innerhalb der EU nur stärken

Die Türkei steht 2011 vor Wahlen und einer voraussehbaren Verfassungsrevision. Die Regierung Erdogan hat durch eine Verhaftungswelle und laufende Prozesse gegen hohe Offiziere - sie stehen unter Anklage einer Verschwörung des Code-Namens Ergenekon - die historisch betrachtet quasi-absolute Machtstellung der Armee wohl gebrochen. Erdogan, der Europa kürzlich herablassend als einen „christlichen Club“ bezeichnete und die Intergation von Auslandtürken - wörtlich in einer Rede an die deutschtürkische Kolonie - als Verrat an der türkischen Nation betrachtet, wird die Chance haben mit einer relativen oder sogar absoluten Parlamentsmehrheit seiner Partei das Land umzugestalten.

Je nach Standpunkt keimt gegenwärtig die Hoffnung oder die Befürchtung auf, dass die AKP-Regierung die Türkei in eine zwar moderne und wirtschaftlich potente, aber autoritär regierte islamische Republik - in einen „anatolischen Tigerstaat“ nach dem mit Lob überschütteten Modell Kayseris - verwandeln wolle.  Welche Richtung das islamische Brückenland auf seinem Weg der angekündigten Verfassungsreform einschlägt, wie die Säkularisation der traditionellen Werte sich indessen fortsetzt oder auch umkehrt, der Konfrontation mit den Altlasten ihrer Geschichte kann sich die Republik nicht entziehen. Der Druck der EU auf die Türkei, ein umfassendes Recht auf Meinungsfreiheit zu garantieren und ihre Geschichtsversion zur osmanischen „Lösung des Armenierproblems“ von 1914/18 in einem internationalen Urteilshorizont zu überprüfen, ist aus liberaler Optik berechtigt und wird wohl nur ein pervertiertes nationales Ehrgefühl verletzen können.  




Bilddokumente

1. a/b/c:  Ansichten der  westlichen Relieffront über der Vorhalle der Kreuzkirche von Ahtamar. Flankiert von zwei vierflügligen Cherubim stehen im Mittelfries Christus und der Bauherr der ehemaligen Palastkirche, König Gagik I. aus dem Geschlecht der Artzruni. Christus zeigt mit erhobener Rechten in der Pose des Verkünders zum Himmel. In seiner Linken hält er die Heilige Schrift als Symbol des ewigen Schöpferworts. Gemäss der monophysitischen Lehre, welcher die armenische Kirche anhängt, ist Christus die untrennbar eine Natur des fleischgewordenen Worts. Der König von Vaspurakan - mit Krone und reichem Ornat - trägt auf seinem linken Arm ein halbplastisches Modell der Kirche, auf welches er mit seiner rechten Hand hindeutet. Zu Füssen der beiden Hauptfiguren stehen im Halbprofil einander zugewendet zwei kleine Engel als Emblemträger. Rankenbögen überwölben im Dreitakt das Mittelfenster und die beiden überhohen Blendfenster, welche mit ihren eingelassenen Reliefpfeilern die Fassade plastisch gliedern. Ueber den Häuptern der Cherubim in den Seitenfriesen sowie über dem mittleren Rankenbogen, welcher die Felder des Königs und des Erlösers verbindet, ist dreimal das Ankerkreuz als Lebensbaum dargestellt. Das mittlere Kreuz unterscheidet sich in seiner ornamentalen Gestaltung von den beiden äusseren. Letztere sind als Tiefreliefs versenkt und daher möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt in den Baustein gemeisselt worden. Das herausgebrochene Medaillon zwischen den beiden kleinen Engeln enthielt vermutlich eine als Lebensbaum stilisierte Darstellung des griechischen Kreuzes, der „crux quadrata“, welche den Grundriss vieler byzantinischer, syrischer und armenischer Kirchen bestimmt. Trifft diese Rekonstruktion zu, dann lässt sich das Emblem wohl als symbolischer Grundplan der Kirche interpretieren.



(b) Einer der beiden kleinen Engel an der Westfront, welche als Medaillonhalter unter der zum Himmel weisenden Hand Christi stehen. Von eindrücklicher Dynamik ist die Form des hinter der Aureole  zurückgebogenen Flügels. Er stellt eine sprechende Verbindung zum erhobenen Arm Christi her. Der Flügel des spiegelbildlich gegenüberstehenden Engels unterstützt gleichsam den das Kirchenmodell tragenden Arm des Königs (c). Wenn das zerbrochene Medaillon zwischen den beiden Engeln einen dem Lebensbaum entsprechenden organisch-vegetabilen Grundplan der Kreuzkirche - ihre „Idee“ oder ihr Urbild im platonischen Sinn - darstellt, dann wird die Bedeutung des symmetri-schen Gesamtbildes und seiner Korrespondenzen verständlich: Die Errichtung der Kirche geschieht durch das ewig sprechende Wort des Schöpfergottes.


Der Katholikos Thomas aus dem Herrscher-Geschlecht der Artzruni, der Chronist des Reichs von  Vaspurakan, berichtet, dass König Gagik I. auf der nach Südosten gerichteten Zunge der Insel Ahtamar  einen ummauerten Palast samt Vorrats- und Verwaltungsgebäuden, ja selbst einer kleinen Stadt, sowie einen Hafen und Terrassen mit Obst- und Weingärten angelegt habe. Noch heute steht, damals wohl im Zentrum der Anlage, die um 915 erbaute Palastkirche auf dem Kamm zwischen den zwei Buchten der Insel. Wenn man den Reliefdekor der Kirche als Muster für die architektonische Prachtentfaltung des Palastes zulässt, dann kann die Schilderung des Chronisten kaum als überschwänglich gelten. Ein archäologisches Interesse für die armenische Vergangenheit ist in der Türkei nicht vorauszusetzen. Die Touristikwerbung suggeriert bisweilen zwar gerne die märchenhafte Vorstellung des Palastes, unterschlägt aber die Existenz einer historischen armenischen Kultur. Die türkische Archäologie neigt indessen dazu, den Palast ins Reich der Legende zu verweisen. Dass das an die Kirche anschliessende armenische Kloster, Sitz des bedeutenden Katholikats von Vaspuraken, 1915/16 zerstört wurde, gehört zu den im Zusammenhang mit dem Genozid an der armenisch-christlichen Minderheit tabuisierten Themen. - Die Insel hat die Grundform eines Dreispitzes. Von Süden steigt die sich verbreiternde Zunge zu einem Gipfelgrat an, von welchem die Klippe der Nordwestküste fast senkrecht abbricht. Auch die winzige Insel im Hintergrund der Bucht von Gevas war bis 1915 Sitz einer armenischen Kirche, welche dem Zerfall preisgegeben wurde.



2. Süd- und Nordfassade der Kreuzkirche sind symmetrisch durch eine Staffelung von Exedern und Pfeilern gegeliedert. Zuoberst an der Südfassade zieht sich das breite Weinrankenband mit eingeflochtenen Jagd- und Kampfszenen um die südwestliche Ecke fort. An eines der beiden äusseren Lebensbaum-Kreuze der Westfront (oben links) anschliessend folgt eine Reihe einzelplastischer, teilweise zerstörter Tierfiguren. Auf der nächsten Stufe unter den Medaillons mit Heiligenbüsten zieht sich  - in der Fortset-zung des Stifterbildes - der Figurenfries mit den Darstellungen von Szenen aus dem Alten Testament um die Exedern der Südfront: Jonas wird von den Seeleuten in einer drastischen Darstellung über Bord geworfen, daneben (unten links) hat ihn offenbar der „Walfisch“, welcher in Anlehnung an urartäische Vorbilder als heterozoisches Fabelungeheuer mit Seraphflügel, Fischleib und Löwenkopf dargestellt ist - an Land gespuckt. Rechts vom Pfeiler wird Abraham, welcher seinen Sohn eben am Haarbüschel gepackt hat, von Engelshand ein Widder zur Opferung angeboten.


3. Adam und Eva stehen im Figurenfries der Nordfront einander zugewendet zu beiden Seiten des Baums der Erkenntnis. Ihre nach dem „Apfel“ greifenden Hände berühren sich und scheinen das heimliche Ein-verständnis bei der Ueberschreitung des Gebots auszudrücken. Es ist möglich, dass Eva gleichzeitig mit ihrer rechten Hand eine bereits gepflückte Frucht zum Mund führt (die Reliefpartie ist leider stark zerstört). Die Gebärde ihrer Rechten deutet in diesem Fall wohl an, dass Eva als Verführerin Adams Hand zur Frucht hinlenkt. Ein interessantes, leicht zu übersehendes Detail ist die für uns ungewohnte Tatsache, dass die Schlange in der Darstellung des Sündenfalls fehlt. Wird Eva selbst als die Verführerin dargestellt und mit der Schlange identifiziert? Wenn dies die Absicht des Künstlers oder seiner Auftraggeber ist, dann hat der Verzicht auf die Darstellung des alttestamentlichen Symbols der Verführung und der Sünde in der narrativen Logik des Bildes einen Sinn. Dennoch sucht man nach einer Erklärung der Besonderheit. Die Identifikation der Schlange mit der Frau - ihre Darstellung als Urmutter mit Frauengesicht und Brüsten - ist im Mittelalter zwar häufig. Damit ist aber ihre Abwesenheit schlechthin in der armenischen Reliefdarstellung noch nicht erklärt. Sie mag damit zusammenhängen, dass die Schlange in der armenischen wie in anderen orientalischen Kulturen nicht - wie vorwiegend in Palästina - als schreckhaftes Symbol der Ver-führung, sondern als Heilsbringerin und Beschützerin gilt und als Totemtier vielfach bis in die Gegenwart verehrt wurde. Sie hat in Aegypten und Mesopotamien als ambivalentes Sinnbild des Todes und zugleich des Lebens, der Auferstehung, kultische Bedeutung. Die früheste Dar-stellung zweier Schlangen, welche sich um einen Stab winden - das Urbild des Aeskulapstabs - stammt aus Mesopotamien. In der hellenistischen und römischen Antike wird die Aeskulapschlange zum konventionellen Symbol. Die byzantinischen Bischöfe trugen einen Schlangenstab - in der Form des Antoniuskreuzes - als Insignie ihres Amtes. - Das schlanke Bäumchen im Relief von Adam und Eva auf Ahtamar erinnert an eine hochgeschossene Zuchtpflanze; sein Stamm ist zwölfmal beschnitten - vielleicht ein Hinweis auf den Baum des Lebens der Offenbarung, welcher zwölfmal Früchte trägt. Die Frucht ist nach ihrer Form zu schliessen nicht ein Apfel, sondern eine Feige, wie sie in orientalischen Darstellungen der Sün-denfallszene häufig vorkommt. Der Baum der Offenbarung mit den zwölf Früchten findet sich in der armenischen Kunst in ähnlich stilisierter Form, so etwa in einer wunderschönen Miniaturdarstellung der Verkün-digung Mariae aus dem 14.Jahrhundert. - Die Fassade der Kirche weist zahlreiche Spuren der Zerstörung auf. Bei den Einschlägen in der Mauer handelt es sich vermutlich um Einschusslöcher. Die Figuren des Bildfrieses sind teilweise relativ gut erhalten. Offensichtlich wurden die religiösen Bildwerke nicht systema-tisch beschädigt. Umso auffallender sind daher die Schlag- und Kratzspuren auf den Körpern von Adam und Eva. Die Zerstörung ihrer Gesichter „straft“ wohl ausdrücklich die das islamisches Sittlichkeitsempfinden beleidigende Darstellung nackter Körper.



4. Armenischer Grabstein. Einer Legende zufolge wurde das Kreuz aus dem Holz des Baums der Erkenntnis gezimmert und auf Golgatha in den Stumpf des abgestorbenen paradiesischen Lebensbaums eingesetzt. Das aufgepfropfte Kreuzholz wurde durch den Opfertod Christi zum neuen Lebensbaum. Die Legende erklärt anschaulich die durch Christus erworbene Auferstehungskraft des Glaubens und die Erneuerung der Schöpfung. Gemäss orientalisch-christlicher Spekulation treibt der Lebensbaum, welcher als Mitte der Welt aufgefasst und mit dem Kreuz des Erlösers identifiziert wird, seine Wurzeln in die Unterwelt und zweigt mit den Aesten seiner Krone in den Himmel. Er stellt also Hölle und Paradies verbindend das Weltganze dar. Das Rad, dessen Felgen in Darstellungen häufig wie die Flügel der Cherubim von Augen übersät sind, symbolisiert wie die-se die Fülle der Erkenntnis und die Allgegenwart Gottes. Räder stehen oft stellvertretend für die Cherubim. Diese altmesopotamischer Tradition entstammenden vier- oder sechsflügeligen Mischwesen stehen gemäss dem Alten Testament nahe bei Jahwe und bewachen den Baum des Lebens. Die Identifikation von Cherubim und Rädern ist durch die Vision Ezechiels begründet, nach welcher die Cherubim, auf rollenden Rädern stehend, den lebendigen Thronwagen Gottes verkörpern. Die Symbolik sowie die Darstellung des Lebensbaums und der Cherubim in seinem Umkreis sind nachweisbar durch die Mythologie und Reliefkunst des urartäischen Reichs geprägt.  (Zum Kreuzstein und zu urartäischen Vorbildern s.a.a.O.)



5. Der Blick vom Burgfelsen auf das Buckelfeld der zerstörten Altstadt von Van erfasst am Horizont den östlichen Teil der äusseren Stadtmauer um das ehemalige „Seraiy“-Tor, wo die Gebäude der osmanischen Verwaltung standen. Die Kaya Celebi Moschee aus dem 16.Jahrhundert, östlich von der Hüsrev Pascha Moschee, wurde 1968 ebenfalls sorgfältig restauriert. Die Ulu Cami im Mittelgrund wurde dagegen durch die Beschiessung 1915/17 offenbar noch endgültig und irreparabel zerstört. Die Wohnquartiere der in der Altstadt lebenden armenischen Verteidiger befanden sich hauptsächlich im Zentrum und im Norden am Fuss des Burgfelsens. Der Verteidigungsring reichte während der osmanischen Belagerung im April 1915 vom Täbris-Tor im Nordosten bis zum Kornspeicher im Westen der Altstadt. Als das armenische Freiwilligen-Korps als Vorhut der russischen Truppen vorrückte, evakuierten die osmanischen Behörden die muslimische Bevölkerung im Westen Aygestans und die Armee intensivierte am 16.Mai das Bombardement der Altstadt. Doch schon am folgenden Tag vereinigten sich die armenischen Verteidiger beider Stadtteile, stürmten die Zitadelle auf dem Burgfelsen und hissten die armenische Flagge. Die russische Armee rückte am 18.Mai in Van ein. Der mehrfache gewaltsame Wechsel der Besatzung Vans in den folgenden Kriegsjahren besiegelte das Schicksal der Altstadt und Aygestans. Aber im Mai 1915 setzte die geplante systematische Vertreibung und Vernichtung der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich ein. Der „Verrat von Van“ ist in der türkischen Rechtfertigungstheorie der Auftakt für die „Umsiedlung“ der armenischen Bevölkerung. Sie wurde gemäss der Vorgabe zu deren „Schutz“ und  aus strategischen Gründen durchgeführt. Die Analyse und genaue Datierung der Ereignisse in Van und ihre Vorgeschichte spielen eine entscheidende Rolle bei der Beweisführung und Verankerung der Völkermord-Anklage.



6. Der Blickwinkel der vor Mitte des 19.Jahrhunderts entstandenen Vedute zeigt die Altstadt Vans von Westen - aus der Seerichtung - und erfasst den östlichen Abschnitt des Burgbergs mit den schwer zu-gänglichen urartäischen Felsgrab-Kammern von Ickala und Naft-Kuyu. Es handelt sich um eine kolorierte Fassung des Stichs von Jules Laurens, der in einer französischen Reisebeschreibung von 1854 publiziert wurde. In der Nähe der Felswand steht das Minarett der ältesten Moschee, der Ulu Cami, deren Kuppel schon 200 Jahre zuvor unter der Wirkung eines Erdbebens eingestürzt war. Rechts - beim ehemaligen Mitteltor der äusseren Stadtmauer - ist die vom osmanischen Generalgouverneur im 16.Jahrhundert er-baute und nach ihm benannte Hüsrev Pascha Moschee, zu deren Komplex neben einem Kuppelgrab ein Badehaus gehörte. Sie wurde 1968 restauriert. - Noch Anfang des 20.Jahrhunderts war die ferne Grenz-stadt von Konstantinopel aus leichter auf dem See- und Landweg über Batumi und Erevan oder über Trab-zon und Erzurum zu erreichen als durch Anatolien. Die durch eine Mauer befestigte Altstadt unter dem Burgfelsen entwickelte sich nach der Mitte des 19.Jahrhunderts durch Zuwanderung von Landflüchtigen und dehnte sich auf dem Gelände ihrer östlich gelegenen Gärten aus. Nach einer Feuersbrunst und Po-gromen zur Zeit des russisch-türkischen Kriegs sowie 1896 zogen wohlhabende christliche wie muslimi-sche Familien in die grosszügiger angelegten Aussenquartiere der Neustadt. Die „Gartenstadt“ Aygestan umfasste um 1900 eine etwa achtmal grössere Fläche als die ummauerte Altstadt und war Sitz ausländi-scher Handels-Niederlassungen, Konsulate und Missionsstationen. Um 1860 sollen in Van etwa 30`000 Einwohner gelebt haben. Muslime und armenische Christen wohnten vorwiegend in getrennten Quartieren. Um 1914 umfasste die Bevölkerung der Altstadt nach armenischen Quellen etwa 3000 Armenier und 1000 Muslime. In der östlichen Neustadt sollen ebenfalls nach armenischen Schätzungen 20`000 Armenier und 17`000 Muslime (Kurden, Türken, Perser und andere Minderheiten) gelebt haben. Gemäss türkischen Quellen bildeten die Armenier dagegen in Van ebenso wie in anderen Städten immer eine Minderheit. Für das 19.Jahrhundert ist eine starke Emigration von Zugehörigen aller Minderheiten nach Konstantinopel dokumentiert. 



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Zeitungs- und Zeitschriften-Artikel werden in der Literaturauswahl nicht aufgeführt. Unter den zahllosen Internet-Artikeln und Dokument-Dossiers sei hier nur auf drei Links verwiesen: 


http://www.armenocide.net/ / www.armenocide.de : Berichte der deutschen Botschafter in Konstantinopel an den Reichskanzler

www.armenianforum.org.site : Armenians in Turkey Today: VI. Neglect and destruction of Armenian cultural heritage

www.ermenisorunu.gen.tr/articles : Der Armenier-Konflikt: Behauptungen-Tatsachen