Donnerstag, 4. November 2010

Istanbul





Winter in der Gecekondu von Istanbul-Uemranye

Mittellose Bewohner reissen Fetzen von den Plakatwänden, um sie in ihren Holzkohleöfen zu verfeuern. In der Perspektive der Autobahnzuführung, zerstörter Konsumillusionen und vereister Trottoirs stossen vier pfeilschlanke Minarette in den winterlichen Himmel. Am Ende der Zuführung, an der Einfahrt zur Gecekondu steht die neue Quartier-Moschee. In ihrem Untergeschoss ist ein Versammlungslokal mit einer Suppenküche eingerichtet.


In der Aufnahme aus dem Inneren der Gecekondu, aus der Gegenrichtung, erscheint die glühende Silhouette der  Minarette im Gegenlicht der sinkenden Sonne. Verklärt wölbt sich die Kuppel der Moschee hinter einer  grauen Front bunt zusammengeflickter Wohnschuppen und dem wackligen Baugerüst eines mehrgeschossigen Mietblocks, welcher gerade renoviert und aufgestockt wird, damit er mehr Rendite abwirft.

In der Wohnmisere um sie herum mag die Moschee manchen Bewohnern der Gecekondu Zuflucht bieten und ihre Gewissheit stärken, dass eine höhere Instanz sie am Ende für die erduldeten  Erniedrigungen entschädigt. Es sind wohl besonders die Aermeren, die in der Stadt nie wirklich angekommen sind und geringe Chance haben je zu den Arrivierten zu gehören. Den Ankommenden dient die Moschee wohl als Orientierungshilfe im Labyrinth ausufernder Vorstadtsiedlungen, denn von den Anschlüssen zu den Stadtzentren und zur Ring-Autobahn sind ihre Minarette weithin sichtbar. Im verzweigten Inneren der Gecekondu angelangt, muss sich ein fremder Besucher bei werweissenden Bewohnern zum Ziel durchfragen. Er ist aus der Hektik des Grossstadtverkehrs in eine dörflich-anatolische Wirklichkeit versetzt, steckt ratlos in einer unüberschaubar grossen Ansammlung von Bungalows und schäbigen Mietshäusern, in welcher eine andere Zeit gemessen wird als im Zentrum, der City, von wo er herkommt.

Ein schmutziger gefrorener Tümpel liegt zwischen ein paar einstöckigen Katen. Am Strassenrand brennt ein Kohlefeuer unter einem Rost. Es riecht nach brutzelndem Hammelfett und Kohlesmog aus Blechkaminen. Um die Ecke, an Staudengärtchen, schwarzen Schneehaufen und dem Depot eines Kohlehändlers vorbei, steht ein mehrfach aufgestocktes Miethaus. Am Eingang zu dessen Hinterhof, in welchem sich Baugerümpel stapelt, hat der Besitzer ein blau gestrichenes  Metalltor angebracht, um das Areal gegen diebische Nachbarn und Neusiedler abzusperren. Auf diesem massiven Tor zeigen Bewohner des Hauses, einem verbreiteten Brauch folgend, mit grossen schwarzen Buchstaben den derzeitigen militärischen Aufenthalt eines jungen Mannes an: „O  SIMDI  ASKER  81/2  HATAY“ – „Er dient jetzt als Soldat der Einheit 81/2 in Hatay“.

Hatay, Antakya! Der Rekrutierte ist weit fort von hier. Die Nachbarn sollen wissen: Ein Sohn der Familie erfüllt seine Ehrenpflicht in der Armee. Der junge Mann hat mit Freunden zusammen auf dem Dach des baufälligen Blocks Brieftauben gezüchtet. Nach einem Jahr, in welchem er Beulen von Schlägen und Frost einstecken lernt, wird er als vollwertiger Erwachsener in die elterliche Wohnung und zu seinem Taubenschlag zurückkehren.

Der Heimkehrer wird nach abgeleisteter Pflicht wohl vorerst weiterhin bei den Eltern unterkommen und seinen Verdienst bei Gelegenheitsarbeiten mit der Familie teilen. Uemranye ist sein Zuhause, aber seine Heimat ist nicht die Gecekondu. Die Eltern sind aus einem fernen Dorf nach Istanbul gezogen, weil sie sich für ihre Kinder in der Grossstadt bessere Chancen versprachen als in der wirtschaftlich vernachlässigten Provinz. Die Grosseltern und ein Teil der Verwandtschaft leben noch in jenem Dorf am anderen Ende der Türkei.

Hatay heisst die unbekannte Stadt, in welcher der Sohn jetzt dient. Sie liegt hinter der östlichen Riviera des Mittelmeers. Ihr Name auf dem blauen Tor ist mit Spraystössen schwarz umwölkt. Die Tauben werden kaum Nachrichten nach Hatay oder von dort zurück zu den Eltern, Geschwistern und Freunden tragen. Weshalb nicht doch? Lassen wir uns eine Gecekondu-Arabeske einfallen, in welcher sich dieser Wunsch erfüllt:

                                                   
                                                   Es fliegt eine Taube.
                                                   Von Südost über den Taurus
                                                   fliegt sie und geblendet
                                                   über den Salzsee.
                                                   Ueber den Sakarya-Sümpfen
                                                   trödelt sie den Mäandern entlang.
                                                   Sie kreist zwischen Hügeln
                                                   über einem Kindergrab.
                                                   In der Kammer verschlossen
                                                   ist königliches Spielzeug:
                                                   Greif, Löwe und Pferd.                                              
                                                   Vor der Sonne fliegt sie dann
                                                   flugs nach Nordwest -
                                                   und flattert flink eines Abends
                                                   auf einem Hausdach
                                                   unter die löchrigen Säcke.
                                                   In der Kapsel trägt sie
                                                   aus ihrem Urlaub Botschaft.
                                                   Bringt heim nach Uemranye
                                                   Nachricht vom Soldaten,
                                                   Botschaft vom Sohn:
                                                   dass er fern, dort
                                                   wo sich mit Feuerstössen
                                                   die Heimat eintreibt,
                                                   an den Taubenschlag
                                                   und an die Freunde denkt.
                                                   Dass er sich kümmert um sie
                                                   und um das Futter.



Die Gecekondu von Uemranye/Istanbul im Blickwinkel des „Carrefour“-Einkaufszentrums

Die Filiale des französischen Shoppingriesen hat sich an der Hauptverkehrsachse östlich der Bogazici-Highgate an entwicklungs- und verkehrsstrategisch hervorragender Stelle positioniert, präzise: am Kreuz der nordöstlichen Ringautobahn und der Sile-Autobahn. In dieser Verkehrszone liegt sie hart am Rand der Gecekondu des Stadtbezirks Uemraniye.

Durch die Fensterfront hinter den Kassenbatterien, über der endlosen Reihe ineinander geschobener Einkaufswagen, erscheint der winterliche Horizont der Gecekondu auf der asiatischen Seite des Bosporus. Durch die Doppelverglasung wirkt die Dorfstadt mit dem Minarett ihrer Moschee wie eine Fata Morgana der Vergangenheit. Randständiger Wildwuchs wuchert dort in eine ungewisse Zukunft hinaus. Auf dem teuren Baugelände hinter dem Parkplatz rücken die Betongerüste von Wohnblöcken an den Fuss des Hügels heran, auf welchem sich die zählebige Gecekondu, unbekümmert um Baugesetze, ihr kündbares Daseinsrecht ersessen hat.

Die Stadtplanung wird ihre Verzweigungen nicht einholen, denn sie klettet sich bald an ihre Umgehungsstrasse, an der kleine Geschäfte Standortvorteile nutzen, und stösst ihr entlang auf neue, noch unerschlossene Territorien vor. Aber die Verkehrsachse setzt dem ungeplant-organischen Wachstum einen Sperriegel. Im Umkreis des Autobahnkreuzes entstand eine Konfliktzone. Hier wird die Gecekondu auf den Pannenstreifen gedrängt. Selbst die Moschee, welche die Legitimität ihrer Zulassung zu erhöhen schien, schützt ihre Randquartiere wohl nicht mehr lange vor dem Vormarsch der Raupenbagger. 





 Do-it und Pepsi

Bis zur Decke überquellen die Gestelle mit Zweiliter-Petflaschen. Coca- und Pepsi-Cola türkischer Lizenzproduktion sind die Marktleader. In erdrückender Perspektive türmen sich über den für den Kunden erreichbaren sechs Gestellen nochmals  fünf glänzende Reihen Coca-Cola-Flaschen, elf insgesamt. Werbefassade. Der Angestellte an der Palette trägt zum Ueberfluss ein rotes Coke-T-Shirt.




Im „Günün Pazari“ überquellen die Mandarinen in ihren zu Amphitheatern hochgestapelten Kisten und ihre Tagesfrische erstrahlt unter der von Solariumlampen erzeugten Sonnenkraft. In glänzenden Taschen türmt sich unter kinoleinwandgrossen Discountpreis-Schildern das Waschmittel, welches die Sonnenkraft für die Wäsche verspricht. Und in der Haushaltabteilung versprechen Batterien von Bosch-Waschmaschinen den Hausfrauen die Freiheit von der Waschfron.




In der Filiale des deutschen Unternehmens „Praktiker“ im gigantischen Shoppingkomplex von Uemranye animiert eine modisch ausgerüstete Puppe mit Schutzhelm, Oel-Pellerine, Schutz-Brille und Staubmaske den Selfmade-Bauarbeiter-Schweisser-Schleifer-Lackierer zum Zugreifen. Alles nichts Neues. Doch: Hat eine türkische Gewerkschaft  nicht bloss die Legitimität, sondern auch die nötige Macht, in Europa geltende Schutznormen für die Arbeitskräfte in Betrieben - zum Beispiel des Bau- oder Transportgewerbes - durchzusetzen? Und: Sind Migranten überhaupt gewerkschaftlich organisiert? Wieviele von ihnen erfüllen die dazu notwendige arbeitsrechtliche Voraussetzung?

Der Bauherr eines Selfmade-Hauses in der Gecekondu wird sich den Praktiker-Luxus jedenfalls schon darum nicht leisten wollen, weil sein lichtscheues Unternehmen niemandes Neugier wecken darf. Ein Detail fällt auf, weit mehr als bloss Etikette, unscheinbare Marke des enormen gesellschaftlichen Wandels: Ueber dem Eintritt der Konsum-Paradiese fehlt das Schild „Mashalla“, welches der kleine Kohlehändler der Gecekondu über  den Eingang seiner baufälligen Bude an der Ecke einer hinterwärtig gelegenen Gasse genagelt hat. 


Arabeske







HAYIN GECELER MUTLU 


Inoffizielle Regelung von Nutzungsrechten
  


Auf dem verwaschenen und über ältere Schichten gespachtelten Mauerverputz eines Hinterhofs der Altstadt von Bursa sind Vokabeln gemalt. Crèmefarbene und schwarzrote Grossbuchstaben zeigen in ordentlicher Schrift an: Hier dürfen Autos gereinigt und parkiert werden. Anwohner haben den freien Platz offenbar zu diesem Zweck reserviert. Es könnte sein, dass jemand das Autowaschen auch als Dienstleistung anbietet. Der schmale Hof, in dem das späte Nachmittagslicht spielt, dient offensichtlich auch als Lager für gebrauchte, teils zerbrochene, für Anbau und Flickwerk wieder verwendbare Ziegelsteine. Und an der gegenüberliegenden Wand wartet Holzkohle auf Käufer im kommenden Winter.

Den Slogan „HAYIN GECELER MUTLU“ - „Treulose Nächte sind glücklich“ - hat jemand weniger ordentlich und eilig mit indigoblauer Farbe oberhalb der Anzeigen auf die Hauswand gesprayt. Es handelt sich wohl um einen der Verse aus tausend und immer noch einem Lied, das von verbotener, unerwiderter, erträumter Liebe oder von Schande, Scham und verletzter Ehre erzählt. Ein Fragment arabesker Literatur, wie sie in den Armenvierteln türkischer Städte blüht? Der Slogan hat mit den nützlichen Hinweisen jedenfalls kaum etwas zu tun. Doch der dicke weisse Farbstrich, vertikal von oben nach unten gezogen, ist wohl nichts anderes als eine prosaische Markierung, welche die Nutzung der Lager- oder Parkfläche des Hofs regelt. Eine überflüssig gewordene Unterteilung der Parkfläche? Nur Eingeweihte, die Anwohner eben, können wohl Zweck und Absicht der Zeichen eindeutig entschlüsseln.

Wir erraten eine Geschichte. Nachdem die noch brauchbaren Mauersteine eines zerfallenen Hauses von den Bewohnern des Quartiers endgültig weggeräumt worden waren, blieb zwischen den Häusern ein Leerraum zurück. Eine Art Hinterhof mit freiem Zugang zur Strasse war entstanden. Da niemand Anspruch auf den Platz erhob - die ehemaligen Hausbewohner waren wohl längst verstorben oder weggezogen -, fingen die Anwohner an ihn für verschiedene Zwecke zu nutzen. Das war logisch, denn bei der Enge der Verhältnisse fehlte es ihnen an Abstellraum und Platz, um gewisse Arbeiten zu verrichten. Natürlich bot sich die Lücke zwischen den Häusern als hübscher Parkplatz an, denn Autos versperren in den Seitengässchen eh immer die Durchfahrt. Wenn Autos aber auf dem engen Zwischenraum herumstehen, sind sie wieder anderen Ansprüchen im Weg. Und schaut erst mal zu! Der Anlieger, welcher gerade seinen Schuppen entrümpelt,  e r  darf doch hier nicht einfach seinen Krempel deponieren und die Entsorgung vergessen. Der Kundenmaurer reklamiert für sich mit mehr Recht Platz. Allerdings! Doch der soll auch wieder nicht meinen, er könne da ein Gratisdepot für Ziegelsteine und Schalbretter einrichten, falls sich mit seinem Geschäft auch der Platzbedarf vergrössert. Und der Kohlenhändler gegenüber darf erst recht nicht, wie er Anstalten macht, den ganzen Hof als Lager für Briketts und Holzkohle - und ja! - frecherweise noch als Parkplatz für ein Pferdefuhrwerk besetzen.

Man muss also die Ansprüche diverser Nutzer, bevor sie sich als Gewohnheitsrechte durchtrotzen, regulieren. Man muss irgendwie vorsorgen und miteinander übereinkommen. Gesetzt den Fall, einer will Holz spalten oder sein Auto waschen und wenn nötig aufbocken, um Reifen oder Oel zu wechseln, was allemal vorkommt, dann muss man auch für diesen Zweck genug Raum aussparen. Wie Anwohner ihre persönlichen Ansprüche auf die Nutzung des Hofs zur Geltung brachten und von Fall zu Fall, meist wohl unter der Hand (dafür ist keine Versammlung erforderlich) regelten, diese Geschichte lassen uns die Mauer-Graffiti immerhin erraten.

Wir wollen die Verhältnisse aber nicht idealisieren. Dass Konflikte sich im gemeinsamen Einverständnis und ohne Beizug einer übergeordneten Instanz regeln lassen, ist eher ein glücklicher Sonderfall. Wir erfinden eine realistischere Variante und nehmen an: Ein Quartierbewohner hatte nach dem Zerfall der Mauern eines baufälligen Hauses, bei dem er wohl nachhalf, längst erfasst, dass er  sein hübsches Geschäft ausweiten könnte. Er hat einschlägige Beziehungen zu Leuten, welche ihrerseits Verbindungen zur Stadtverwaltung und zur Polizei pflegen. Als Parkplatzbetreiber bezahlt er regelmässig seinen Beitrag an eine stramm organisierte Familienklientel welche ihrerseits Nutzungsansprüche, Einzugsrechte für Parkgebühren mit der Verwaltung regelt. Die Behörde zieht eine Abgabe ein, der Clan sein laufendes Entgelt. Er selbst, der Betreiber, verfügt über eine ordentliche Einkommensquelle, welche er auch im Interesse der Vermittler gerne vermehrt. Indem er auf der freigewordenen Fläche vier weitere Parkplätze bediente und noch Autos zu waschen anbot, besserte er seine Einkünfte geschäftstüchtig auf. Dass sich sein Zugeschäft dann möglicherweise zerschlug, verdankt die neidisch wachsame Nachbarschaft vielleicht dem glücklichen Umstand,  dass die Polizei einmal wirklich durchgriff, nachdem der Kohlehändler seinen Einfluss geltend gemacht und die anderen Interessen sich mit seinen zusammen solidarisiert hatten. So etablierte sich wohl die unbeständigste Ordnung mit dem grösstmöglichen gemeinsamen Nenner. Die Politik erweist sich - wie die verwinkelten Verhältnisse aussehen - auch im Kleinen als die Kunst, das Verträgliche mit dem Einträglichen so ausgewogen wie nötig zu kombinieren.


Traditionelle Selbsthilfe

Was teilt aber der rätselhafte Spruch - der Sprayslogan - mit? Um eine schlaue Nacht-Version des horazischen „Nutze den Tag“ - Mottos handelt es sich gewiss nicht. Trotzdem möchte man das lateinische „Carpe“ in seinem hedonistischen Sinn auslegen und den Spruch - einmal am Singular „Nacht“ festhaltend - frei nach Horaz so übersetzen: „Geniesse die Nacht und pack dein Glück!“ Oder poetischer, unter Berücksichtigung des Attributs: „Nutze die treulose Nacht, denn sie ist dir hold.“ Man ahnt, der Slogan an der Hofmauer ist hintersinnig, eben in der Art der Arabeske. Wir wagen einen Versuch ihn mit Bezug auf seine Umgebung zu deuten.

„Hain geceler“: die Nacht ist treulos, denn sie schenkt nicht nur verdienten Schlaf, sondern ruft auch die animalisch-triebhaften Kräfte wach. Sie verleitet zu Treubruch, sucht mit Verführungen heim,  überrumpelt das scheinbar solide Gewissen, macht es bestechlich. Wenn wir die Bedeutung von „hain“ ausreizen, dann ist die Nacht - oder sind die Nächte - auch verräterisch. Wie bringt (oder schenkt) die Nacht in solcher Eigenschaft mehr als verstohlenen Gewinn, den ein Augenblick wieder entreisst? Wie schenkt sie Glück? Die vieldeutige Prägnanz des Ausdrucks erlaubt das Attribut „verräterisch“ auf ein nächtliches Unternehmen zu beziehen. Das Nachtwerk - im Unterschied zum Tagwerk des unbescholtenen Bürgers - ist wohl kaum im biederen Gemeinsinn des horazischen Mottos erbaulich und schön, sondern eher zwielichtig  und anstössig. Das unter ihrem Schutz oder durch ihre Hilfe der Nacht abgewonnene Glück wäre so gesehen wohl ein schelmisches, diebisches. Es hätte etwas  Anrüchiges an sich, doch bräuchte es deswegen unverdient und verwerflich zu sein? Könnten die Akteure über das Gelingen ihres Coups statt Häme nicht eine rebellische Freude haben? Zum Beispiel die Genugtuung Benachteiligter, welche sich listig zu einem ihnen - aus welchen Gründen immer - verwehrten Recht verholfen hätten?

Auf eine konkrete und aus der Tradition des Gecekondu-Milieus bekannte Situation hin gedeutet hätte der Satz den Sinn folgender Botschaft: Er wäre - als Aufruf oder Aufmunterung - an eine Gruppe gerichtet, welche auf dem Platz heimlich Baumaterial deponiert und sich zum Zweck verschworen hätte, ein ungenutztes Stück öffentliches Land in ihren Besitz zu bringen, indem sie darauf über Nacht ein Haus aufrichtet. So ausgelegt könnte hinter dem Slogan die in hunderttausend Versionen allbekannte Geschichte stecken. Es ist die Geschichte der Gecekondus schlechthin! Solcher Art nächtlicher Unternehmungen der Zuwandererfamilien und einer traditionell sozialen Auslegung des Rechts zu ihren Gunsten verdanken die „wilden“ Migranten-Siedlungen der Städte ihre Existenz. Der Erfolg der illegalen Besitznahme von Land verhilft ihren Akteuren immerhin zu einem halbwegs beständigen Glück: einem Anspruch auf Abruf, einem Wohnrecht auf Zeit. Diese Auslegung der Mauerbotschaft läge nicht nur für das Milieu der Randbezirke um Osmangazi nahe, der Altstadt unter dem Uludag, sondern für alle oft ausgedehnten Zonen dorfähnlicher Ueberbauung in den Metropolen und Provinzstädten der Türkei.


Familienehre und Selbstjustiz

Doch wir wollen uns mit dieser nahe liegenden Erklärung nicht zufrieden geben. Türkische  Verhältnisse sind kompliziert, im Migrantenmilieu ganz besonders. Vieldeutig, wie sie ist, könnte die Botschaft auch, an eine bestimmte Person adressiert, verschlüsselt verraten wollen: „Pass auf, jemand in deinem Haus ist nachts verstohlen glücklich!“  Bezieht sie sich in diesem Sinn auf das Glück eines verbotenen Liebesabenteuers? Zum Beispiel auf die lichtscheue Liebe eines Mädchens, das sich ohne Wissen der Eltern mit einem Mann einlässt? Oder auf einen Ehebruch, der ohne Wissen des gehörnten Adressaten in „verräterischen Nächten“ von dessen Frau mit einem Nachbarn begangen wird? Oder - wer weiss schon? Vielleicht ist der Autor ja sogar der hämische Täter selbst, der sich vor Rache sicher fühlt. Wir wollen auf der Suche nach Hintergründen nicht allzu spitzfindig argumentieren. Wenn auch keine erotische Schmierengeschichte hinter dem Slogan steckt, so spiegelt sich in ihm doch der aus tausend Varianten bekannte, manchmal schlüpfrige Stoff der Arabeske. In solcher Form traditioneller Gecekondu-Lyrik schlagen sich durchaus realistische, im besonderen Milieu der Migranten nicht selten tragisch endende Geschichten nieder.

„Hain geceler“ ist der Titel eines Albums, welches der türkische Synth-Pop-Musiker Cengis Kurtoglu 1998 über sein hauseigenes Platten-Label „SIMA“ publizierte. Die Wendung ist zugleich die Ueberschrift eines seiner sinistren Liebeslieder. Der Sprayer ergänzte eines Nachts den bekannten Titel zum Satz, indem er das als Prädikativ lesbare „mutlu“ (sind glücklich) hinzufügte. „Hain“ schreibt er orthografisch unüblich. Vielleicht gehört der Unbekannte zur überaus aktiven Fan-Gemeinde von „Cengis Baba“ und leistet seinem Idol ungewollt den Dienst, den neuesten Schmachthit aus dem irisierenden tanzenden Flashlicht der Arena in das Milieu zurückzuholen, wo die Arabeske heute wie immer spontan entsteht und lebt. Widerlegt dieser Zusammenhang die anderen Deutungen - oder ergänzt er sie bloss? Auch mit „Cengis Baba“ und dem Pop-Song bewegen wir uns im Reich der Schicksale deutenden Fortsetzungsgeschichten um Abenteuer, List, Liebe und Tod. Der auch von den Tagesmedien verbreiteten immer-aktuellen Stories um Ehrenhandel, Ehrenmorde und Blutfehden.


„Mondverwirrung“ - die Umkehrung traditioneller Rollenordnung

Der türkische Dramatiker Oezen Yula könnte für uns mit dem verwunderlichen Nachtdrama „Mondverwirrung“ noch eine spannende Variante ins Spiel bringen. Der Dialog zwischen einer Frau und einem Mann in einem Stadtpark enthüllt den Hintergrund nächtlicher Morde an drei älteren Männern, welche in der Offentlichkeit Unruhe und Aufsehen erregen. Der Plot ist kompliziert und abgründig. Er ist keiner Story gängiger Kriminalliteratur entliehen, sondern einer von drückender Enge traditionsgehüteter Ehrbegriffe geprägten Wirklichkeit entwachsen. Die Geschichte trägt sich allerdings nicht im städtischen Milieu anatolischer Migranten zu und sie kehrt auch das übliche Rollenverhältnis der aus Anatolien in die Stadt importierten Ehrenmord-Verbrechen um.

Die Frau bringt im Park Männer, welche sexuelle Abenteuer suchen,  nach einem bestimmten Ritual um. Ihr Dialogpartner war ohne ihr Wissen zufällig Zeuge des ersten Mordes geworden. Die folgenden Morde erlebt er als Zeuge heimlich, weil er der Mörderin - selber todessehnsüchtig - aus einer eigensinnigen Neugierde nachspürt. Jedes Mal spielt sich folgende Szene ab: Die Frau stellt ihren Opfern die Frage: „Sind sie glücklich?“ und erschiesst sie, ehe sie auf ihre Frage antworten können, mit einer Pistole. Am Schluss des dramatischen Dialogs überführt der Zeuge die Frau und zwingt sie, das Motiv ihrer Morde, welches er im Lauf des Gesprächs durchschaut, zu gestehen: Ihr „geliebter“ Grossvater hat sie als Mädchen missbraucht und ihr unter Drohung das Versprechen abgenommen, das gemeinsame Geheimnis niemals zu verraten. „Mondverwirrung“ lautet der Titel von Yulas Stück in der deutschen Bühnenfassung. „Die Frage nach dem Glück in verräterischen Nächten“ wäre eine durchaus passende Alternative.

Die Frau rächt sich auf psychologisch erklärbare, wenn auch perverse Art am männlichen Geschlecht, rächt sich symbolisch am Mann, welcher sie als Mädchen beherrscht und sexuell missbraucht hat. Trotz des grundlegenden Unterschieds gibt es drei Gemeinsamkeiten zwischen dem Fall der emanzipierten Mörderin und den archaischen Ehrenmorden an Frauen durch Beschluss des Männerrats: das Rachemotiv, der rituelle Charakter des Vollzugs und - allerdings nur unter dem Aspekt eines Sonderfalls - auch das ursächliche Vergehen.

Ein Beispiel zum gar nicht so seltenen erschütternden Sonderfall des sexuellen Missbrauchs: Die Mörder einer jungen Frau, die in einem ostanatolischen Dorf Opfer einer Blutschande war, wurden nie überführt. Denn die Zeugen schwiegen. Und die Steinigung, die rituelle Urform der Bestrafung der als „unrein“ und  „ehrlos“ Erklärten, wurde als Unfall getarnt: Die Mörder brachten über der zum Tod Verurteilten eine Steinmauer zum Einsturz. Mit der Ermordung war auch das zugrunde liegende Vergehen eines oder mehrerer Männer aus der Welt geschafft.

In Yulas „Mondverwirrung“ ist der Kinderschänder zur Zeit der späten Rache der Enkelin längst eines natürlichen Todes gestorben. Die Frau vollzieht ihre eigensinnige Rache noch gleichsam unter dem Deckmantel des ihr vom Grossvater damals auferlegten Schweigens. Das zugrunde liegende Vergehen bliebe wohl ihr Geheimnis, würde nicht der Mann während der nächtlichen Begegnung ein Geständnis erzwingen. Weder der Inzest noch die drei Mordfälle werden indessen je aufgeklärt, denn der Zeuge wird die Frau, mit welcher er das Geheimnis teilt, nie anzeigen. Einzig die Zuschauer des Theaters werden in den Zusammenhang eingeweiht. Es bleibt ihnen überlassen, was sie aus der Geschichte machen.